Leumond
Februar 2004

Das Land hinter den Menschen


Tobias Schulz



Brodeln aus dem Esszimmer. Sie hörte genau hin, lauschte zukünftigen Geräuschen. Abendlicher Sturm kündigte sich an, draußen war es nahezu windstill.
Lisa starrte in das Dunkel. Ihre Augen furchten Figuren in das wabernde Schwarz. Sie verschwanden zu schnell, als dass Lisa mit ihnen hätte sprechen können, denn der Mond warf manchmal Licht in das kleine Zimmer.
Sie spürte einen Zipfel ihres Schlafanzugs in ihrem Mund, der Stoff war rau und fad.
So auch das Brodeln, das sich in Sprache verwandelte und zu Wörtern wurde.
Papa schimpfte, leise, wie ein anspringender Staubsauger, doch er wurde lauter und Lisa zuckte zusammen, als seine Hand auf den Tisch donnerte.
Lisa suchte Pinga, er versteckte sich unter dem Kissen, sie drückte ihn an sich.
Böse Worte klopften an die Türe, Papa schrie mit Mama. Mama warf mit Flüchen, sie trafen sich gegenseitig, Mama und Papa. Ein tosender Sturm brach herein, verschluckte den Frieden, der in den Worten gewesen war.
Die Ohren taten weh, Lisa musste weinen.
Sie stand auf, schob die gesammelte Wärme zurück und stand regungslos auf ihrem Bett.
Jeden Abend kühlten böse Wörter das Zimmer. Lisa fror, Abend um Abend.
Ihren feuchten Augen schenkte ihr Zimmer einen Rundgang.
Da im Eck, das Schaukelpferd. Mama sagte immer, Lisa sei zu groß dafür, aber Lisa wollte doch auch nicht mehr reiten. Sie wollte es pflegen, damit es einmal groß und stark werden würde, das Pferd, und mit Lisa davon reiten würde.
Über dem Pferd hing das Bild. Lisa hatte es gemalt, damit sich das Pferd nicht so fremd fühlte.
Es zeigte das grüne Gras eines sanften Hügels und braune Pferde darauf.

Auf dem Schrank lagen orangefarbene Bälle aus Plastik. Lisa wusste, dass sie da lagen, doch sie sah sie nicht.
Noch immer blitzte Zorn herein; Lisa fror. Sie wollte es wieder warm haben.
Leise und vorsichtig, wie eine Daunenfeder, die schwebte, stieg sie vom Bett und stellte sich auf die Zehenspitzen.
Das sind Orangen, hatte Mama mal gesagt, als es noch warm gewesen war und Papa hatte sie Lisa gegeben und gesagt: "Hör nicht auf Mama, das sind Blutorangen!" Das Wort Blut hatte er ganz laut gesagt und Mama hatte geschimpft, er solle Lisa keine Angst machen.
Lisa hatte sich immer gefragt, woran die Blutorangen gestorben seien, bis Papa gesagt hatte, dass sie nur Kunstfrüchte aus Plastik waren und da hatte Lisa gewusst warum, denn Plastik konnte nicht leben.
Sie angelte sich vorsichtig zwei Früchte und fuhr mit dem Finger über deren Haut.
Lautlos klaute sie dem Schrank den Rucksack. Der knackte nur kurz, schlief dann aber weiter.
Der Rucksack schluckte die Blutorangen und Lisa fütterte ihn mit anderen Sachen. Sie gab ihm ihre Uhr, damit sie die Zahlen wusste und gab ihm die vielen bunten Stifte. Sie gab ihm auch die Mütze und den Schal. Dann zog sie sich aus und fütterte ihn noch mit ihrem Schlafhemd. Jetzt war er satt.
Aus dem schlafenden Schrank holte sie neue Kleider und zog sie an. Sie hatte eine dicke Jacke, durch die der Wind nicht kommen konnte, die zog sie über. Sie hatte nur ihre Sommerschuhe im Schrank. Diese streifte sie an.
Leise erklomm sie die Treppe, die sie selbst gebaut hatte. Stuhl, Tisch, Fensterbank. Umsichtig öffnete sie das Fenster und war überrascht, dass die Nacht sie mit einem so unfreundlichen Wind begrüßte, der ihre Haare zurück in das Zimmer wehte.
Unschlüssig stand sie auf der Fensterbank. Da seufzte das Bett, rief nach ihr. Dort hungerte das Schaukelpferd.
Doch sie spürte, dass Pinga, ihr kleiner Pinguin, weit fort wollte und so sprang sie aus dem Fenster. Für wenige Sekunden trug sie die Luft, bis der Boden sie ansprang.

Lisa lief die regennassen Straße entlang. Ihren Rucksack geschultert, ihre Jacke eng zugeknöpft spürte sie die Kälte der Nacht.
Lisa wunderte sich, dass es so wenige Farben gab. Die Hauswände, die Straßen, die Laternenpfähle, sogar das Licht selbst war ein einzig mattes Grau.
Lisa lauschte den Tropfen, die in den Rinnen rauschten oder herunter fielen und zerplatzten. Früher waren sie noch Musik gewesen, jetzt klang es wie kaltes Sterben auf der Straße.
Sie wollte das nicht mehr hören und lief schnell weiter, hielt sich im Gehen die Ohren zu. Dann tropfte sie selbst und ihr Regen lief an den Wangen herab. Mit verschwommenem Blick ging sie stur weiter, immer der Straße entlang.
Hinter ihr fuhr plötzlich ein Auto, es war aus dem Nichts aufgetaucht und es verfolgte Lisa.
Lisa erschrak und rannte los. Sie spürte das Schießen aus den suchenden Augen und versteckte sich in einer Garage.
Das Auto zischte vorbei, warf sein Licht immer weiter auf die Straße und fuhr die Pfützen auf dem Beton platt.
Lisa starrte dem Auto nach, sah wie es kleiner wurde und schließlich abbog.
Hier war alles dunkel, das Licht war zu schwach, um hell zu sein, aber Lisa wusste, dass dort hinten kleine Sonnen waren. Wo Licht war, war Wärme.

Natürlich konnte Lisa das Schild nicht lesen, aber sie wusste, während sie die Treppe hinabstieg, dass hier große und laute und sehr schnelle Ungetüme vorbei rasten und manchmal kreischend Halt machten.
Hier hingen viele Lichter an der Decke, aber sie waren grell und kalt.
Lisa glaubte, dass die Lichter noch warm werden würden und beschloss, sich hier ein Bett zu bauen.
Es war spät und dunkle Nacht und fast keine Menschen befanden sich hier.
Nur ein Mann, der in der Telefonzelle redete und ein Kleiderberg, der an der Wand lehnte und ab und an bebte. Vor dem Kleiderberg war eine Mauer aus Flaschen und ein Platz, der ein Tuch war; für das Geld.
Lisa wollte auch so ein Schloss bauen, aber sie wusste nicht, wie man das machte.
Sollte sie den Kleiderberg fragen, wie das geht? Lisa hatte ein bisschen Angst, denn sie kannte ihn nicht.
Ganz leise schlich sie sich an ihn heran und blieb dann vor ihm stehen.
Er schnarchte und bewegte sich auf und ab.
"Kleiderberg, wie baut man ein Schloss?" fragte sie. Der Kleiderberg richtete sich auf, ganz plötzlich und eine Decke floss daran herab wie Lava. Lisa erschrak.
Kleine und müde Augen starrten sie an.
"Was ist los?", donnerte der Berg und räusperte sich. Er sah durch Lisa durch.
"Wie baut man so ein Schloss?" Jetzt kehrte Leben in die Augen zurück und der Mann sah sie nachdenklich an.
"Woher kommst du, meine Kleine?"
"Weißt du, wie man ein Schloss baut?"
"Wie heißt du denn?"
"Ich weiß es nicht."
Lisa schüttelte lange den Kopf und hörte gar nichts mehr, weil der Mann fragte, wo ihre Eltern waren und fragte, wo die wohnten. Dann sagte der Mann nichts mehr.

Lisa ging weiter an der Wand entlang und wartete, bis der Mann von der Telefonzelle verschwunden war. Dann setzte sie sich und lehnte sich gegen die Wand, an der auch der Berg schlief, aber der war weit weg.
Sie stellte den Rucksack ab und legte ihren Kopf darauf. Mit ihrer Jacke deckte sie sich zu und in ihren Händen hielt sie Pinga ganz, ganz fest.
Ihr Blick fiel auf die andere Wand. Sie war hässlich bunt, die Farben stanken und waren wild. Ein schmutziger Regen aus Dosen. Pinga hatte schönere Farben. Sie hatte ihn von Mama geschenkt bekommen.
Lisa schlief nicht richtig. Das grelle, kalte Licht kratzte an ihren Träumen, versuchte hineinzukommen.

"Willst du etwas essen?" Der Kleiderberg war wieder ein Mensch. Groß und alt und er hatte feurig gelbe Zähne und roch nach alten Bananenschalen.
Lisa nickte.
"Komm mit." Er wollte sie zum Lachen bringen, machte einen kaputten Mann nach, der nicht mehr richtig laufen konnte. Sie lief ihm nach.
"Willst du etwas essen?", fragte sie den Mann. Er blieb stehen und drehte sie um. Er sah sie schief an.
"Ja. Hast du etwas?" Stolzes Kopfnicken. Sie griff in ihren Rucksack und wühlte darin herum. Dann holte sie die beiden Orangen heraus, die Papa Blutorangen genannt hatte.
"Eine für dich, eine für mich", sagte sie und reichte ihm eine Frucht.
Er nahm sie entgegen, befühlte sie in seiner rauen Hand.
"Das ist Plastik.", brummte er und warf sie auf den Boden. Die gestorbene Orange rollte vor ihre Füße.

Der alte Mann kam aus dem Haus heraus, brachte ein Tablett mit vielen Packungen, Tellern und Schüsseln.
"Von Gestern.", meinte er und stellte es auf den Boden. Er setzte sich, auf den Boden, in einer verlotterten Gegend des Asphaltwaldes, einem großen Grab der Großstadt, früh am Morgen.
Er griff beherzt zu, leckte sich die dreckigen Finger ab und schlürfte geräuschvoll alten Kaffee.
Lisa aß nur wenig.

Sie gingen wieder zurück. Dorthin, wo der Mann seinen Kleiderberg hatte. Wo große und sehr schnelle Würmer vorbeifuhren, die sich in ihren engen Höhlen bewegten, nur anhielten, um mit Menschen gefüttert zu werden.

"Pass auf!", sagte der alte Mann, als sie auf die Zunge stiegen, die in den Bauch des Drachen führte.
"Der Unterschied zu den Autos ist, dass die U-Bahnen ein Hindernis nicht umfahren können! Geh niemals auf die Schienen."
Lisa sah ihn an.
Waren die Würmer so gemein, dass sie einfach weiterfahren würden? So unersättlich, dass sie kein Opfer auslassen würden?
"Willst du für immer hier bleiben?", wollte der Mann wissen, während er stöhnend, mit ungelenken Bewegungen seinen angestammten Platz einnahm.
Lisa nickte, sah sich um. Sie wollte ihm erklären, wie sie es sich hier einrichten würde.
Als erstes würde sie die Telefonzelle blau anmalen. Das würde ihr eigenes kleines Zimmer werden. Dann würde sie dort hinten, wo die Würmer ankamen, ihr Schaukelpferd aufstellen. Mit ihm konnte sie, wenn es groß war, in die weite Welt hinausreiten.
Doch sie sagte es ihm nicht. Sie schwieg und riss die Augen auf.
An der Treppe stand ein Mann, er sah in eine andere Richtung, aber Lisa kannte ihn. Es war der Verfolger!
Lisa versteckte sich hinter dem Mann.
"Er darf mich nicht sehen.", flüsterte sie. Der alte Mann bewegte sich nicht, war ein Berg.
Als Lisa vorsichtig nachsah, war der Gegner verschwunden. Aber er konnte wiederkommen. Er wusste immer, wo Lisa war, als hätte sie eine Schnur um ihre Füße gebunden und als wäre diese Schnur lange genug für diese Welt und ihr Ende in seinen Händen.

"Meine Migräne!", stöhnte der alte Mann und griff an seinen Kopf. Lisa erschrak und sah zu ihm herüber.
Sie hatte die Wand angesehen. Die Farben waren auf seltsame Weise bunt und machten Bilder, die Lisa nicht verstand. Pinga ruhte in ihren Händen, auch er bestaunte die Wand, doch er enthielt sich jeden Kommentars.
"Was ist?", fragte Lisa. Auch Pinga schaute fragend herüber.
"Meine Migräne, sie kommt wieder!", klagte er und Lisa suchte die Migräne. Wo war sie?
Er zeigte auf eine durchsichtige, leere Flasche.
"Bring mir bitte so eine Flasche mit. Du gehst einfach die Treppe hoch, raus aus der U-Bahnstation und läufst die Straße entlang. Links siehst du dann einen kleinen Laden. Davor steht ein roter Roboter. Er hat eine große Schüssel mit Eiern in der Hand. Da gehst du rein und nimmst einfach so eine Flasche..." Er zeigte noch einmal auf das Behältnis. "...mit. Du kannst sie einfach so mitnehmen, aber verstecke sie in deinem Ranzen. Alles klar? Beeile dich!"
Lisa hatte sich das alles gar nicht merken können. Da war ein roter Roboter und sie musste so eine Flasche mitbringen. Sie nickte langsam.

Das Licht war schon aufgegangen, aber es blieb grau und die Farben, die ihr entgegen blinkten waren gefälscht.
Viele schnelle Autos fuhren über die breite Straße und es roch nach Auspuff.
Lisa stand unschlüssig am oberen Ende der Rolltreppe und sah sich um. Sie hob Pinga hoch und fragte:
"Weißt du noch, was ich machen muss?"
Dort, auf der anderen Straßenseite, winkte der rote Roboter. Lisa wusste nicht, wie sie hinüber kommen sollte, doch da fiel ihr ein, dass der Mann gesagt hatte, Autos könnten Hindernisse umfahren.
"Lass uns ein Hindernis werden, Pinga!", sagte sie und lief auf die Straße.
Es klappte. Die Autos schrieen und hupten, aber jetzt war sie auf der anderen Straßenseite und da war auch der Roboter.
Er hatte bunte Zähne und große, blaue Augen. In seinen Armen ruhte tatsächlich eine große runde Schüssel und darin lagen Eier aus Schokolade.
Lisa stand vor der Türe und sah durch ein großes Fenster in den Laden hinein.
So viele Dinge.
Lisa musste lange suchen. Immer wieder ging sie zwischen den Regalen hin und her, sie und Pinga hielten die Augen offen und Pinga war es schließlich, der die große Glasflasche fand.
Sie stopfte sie in ihren Ranzen und zog die Zähne zu. Pinga war stolz darauf, dass er die Flasche als erster gefunden hatte. Lisa lief noch ein bisschen umher und bestaunte die vielen Schachteln und Tüten und Flaschen und Dosen. Das hier war das Paradies der vielen Formen.

"Hier, deine Medizin.", sagte Lisa und reichte ihm die Flasche. Der Mann nahm sie, setzte ein gelbes Lächeln auf.
"Danke, meine Kleine. Hast du brav gemacht." Er begann sofort in hastigen, kleinen Schlücken zu trinken.
Lisa hatte auch Durst. Warum hatte sie nicht noch eine Flasche mitgenommen?
"Pinga und ich wollen auch ein bisschen davon trinken.", sagte sie. Der Mann hielt mitten in der Bewegung, welche die Flasche erneut zum Mund führen sollte, inne. Er sah sie scharf an.
"Kommt nicht in Frage! Und wer ist eigentlich Pinga?"
Lisa drehte sich um und lief zurück, dorthin, wo sie ihr Schloss bauen wollte.

Solange das Schloss noch nicht fertig war, musste Lisa frieren. Sie roch, wie der Wind ihr den Gestank in die Nase trieb. Der Gestank folgte ihr. Ganz links, weit weg saß der Kleiderberg und redete mit jemandem, den Lisa nicht sehen konnte. Er hatte seine Medizin ganz ausgetrunken und Lisa und Pinga nichts abgegeben.
Der Boden wurde härter und die Zukunft dunkler.
Lisa musste ein bisschen weinen, aber Pinga tröstete sie.
Schließlich stand sie auf und lief zum Kleiderberg. Er sollte ihr sagen, wo es das Paradies der Trinkenden gab.
"Wo ist das Paradies von denen, die Durst haben?", fragte sie, als sie vor ihm stand. Sein Kopf war nach vorne gestreckt und sein Blick hörte auf, bevor er etwas erreichte.
Langsam drehte er sich zu ihr. Seine Augen waren fest gefroren, es dauerte, bis er sie fand.
"Was? Das Paradies?" Ein kehliges Lachen. "Das Paradies? Ich weiß nicht, wo das Paradies ist. Hast du schon einmal meinen Briefkasten gesehen?" Seine Worte schwammen im Wasser, seine Bewegungen flossen weich und zitternd. Sein Finger zeigte.
Sie drehte sich um, wie der Finger und sah einen gelben Kasten, der an der Wand hing.
"Ich hatte auch mal so einen. Einen eigenen Briefkasten. Dort landete meine Post." Er kicherte, ruderte mit den Armen.
"Sie haben ihn umgebracht!", schrie er, so dass Pinga erschrocken zu Boden fiel. Lisa starrte ihn erschrocken an.
"Siehst du ihn? Sie haben ihn umgebracht. Niemand kann leben, wenn er nicht gefüttert wird. Sie gaben ihm nichts mehr zu essen." Er machte aus zwei Wörtern eines, Lisa verstand ihn kaum.
"Niemand hat mehr Hunger.", lallte er. "Der Briefkasten macht Diät." Er lachte und keuchte. "Briefkastensterben." Er drehte den Kopf zu ihr, seine Augen schielten.
"Sie sterben, wenn man sie nicht füttert, weißt du?"
Lisa verstand. Sie würde sterben, wenn sie nicht bald etwas zu essen haben würde. Und Pinga auch.
"Weißt du, wo das Paradies der Hungrigen ist?", fragte sie ihn. Er hatte die Augen geschlossen. Sein Kopf guckte zur Decke. Er schnaufte tief und sagte keine Worte. Dann sprudelte er. Als er die Augen wieder öffnete, brannte Feuer in ihnen, das Leben blitzte darin und er schüttelte das Alter ab. Sein Körper straffte sich, wies Krankheit von sich und Lisa spürte die Energie des Kleiderberges.
"Das Paradies ist da, wo es keine Menschen gibt!", sagte er inbrünstig und es klang, als würde er beten.
"Such das Paradies hinter den Menschen, meine Kleine. Hast du gehört? Hinter den Menschen! Das Paradies wandert, es flieht vor uns, weil wir es kaputt machen. Geh ihm nach, schnell, es läuft weg!" Die letzten Worte schrie er und sie kamen von den blassblauen Wänden zurück.
"Wo ist es? Sag es uns!", rief sie aufgebracht. Sie sprang von einem Bein auf das andere und sah sich um. War es unsichtbar? So wie die Migräne? Wie die Person mit welcher der Kleiderberg vorhin gesprochen hatte? Wie die Luft?
Der Mann stand auf. Er tastete sich an der Wand entlang und rieb seine Zähne aneinander.
"Komm mit!", forderte er sie auf. Lisa hob Pinga auf und nahm ihren Ranzen. Mit schnellen Schritten lief sie hinter dem Mann her.
Er lief die Zunge hinauf.

"Siehst du die Hölle?", fragte er und schwankte. Er musste sich am Geländer festhalten.
Wieder folgte Lisa seinem Finger und auch Pinga sah sich um.
Ganz hinten wuchs etwas Großes, Graues aus der Stadt heraus. Es war einmal groß und wie ein Würfel und einmal rund und wie eine Röhre. Aus der Röhre stiegen Wolken auf. Es waren dunkle, schwarze Wolken und sie flogen tief, weil sie schwer waren. Sie gossen Alpträume über die Stadt. Sie stahlen die Farben.
Immer mehr quoll hervor und eine große dunkle Wand nahm den Wind mit in ihre Richtung.
"Das ist das Kohlekraftwerk", erklärte der alte Mann. "Dort wird die Krankheit hergestellt, und der Tod, siehst du, alles kommt aus den Rohren der Hölle heraus."
Lisa hielt Pinga die Augen zu. Noch hatten die schwarzen Wolken sie nicht gesehen. Sie musste sich wieder verstecken. Lisa wollte zurück rennen. Der alte Mann hielt sie fest.
"Dahinter ist das Paradies!", sagte er und seine wässrigen Augen sahen sie eindringlich an.
"Hinter dem Schlimmsten versteckt es sich. Da, wo es niemand sucht. Aber es ist immer bereit, zu fliehen. Es ist immer auf Achse, das gute Paradies. Kannst du es sehen?"
Lisa schüttelte den Kopf.
"Die Wolken sind im Weg!", sagte sie und der Mann nickte.
"Ja, lass uns gehen. Vielleicht sind sie morgen ja nicht mehr da."

Lisa sah zu, wie der Zeiger ihrer Uhr alle Zahlen besuchte. Langsam, aber stetig.
Es war niemand da, nur der alte Mann und Pinga. Der große Raum, wo bald ihr Schloss stehen würde, war leer, kein Mensch war hier. Nur das matte Blau der Fliesen, auf dem Boden und an den Wänden. Die Wand gegenüber von ihr war die einzige Ausnahme. Hier glänzten die Farben.
Es war still, nur ihre Tränen weinten.
Pinga saß neben ihr, er wusste nicht, wie er sie trösten sollte. Alles war so nahe dem Ende, draußen lauerten die Wolken, bereit sie zu begraben. Und hier hielten Luft und Zeit den Atem an und es gab keine Grenze zwischen Wand und Boden und alles war gleich und tot.
Lisa schlief ein. Die Tränen hatten eine klebrige Bahn auf ihre Wangen gespuckt und Lisa hatte sich gefragt, wie Pinga das alles aushielt, ohne dass seine Augen weinten.
Aber Pinga schlief auch schon, sie konnte ihn nicht fragen.

Als Lisa die Augen öffnete, sah sie in den freien blauen Himmel, er war wie das gewölbte Dach einer Kuppel und die Kuppel war die Welt.
Es gab keine Wolken. Die Luft war frisch und klar, roch nach Blumen und Wärme. Leben summte um sie herum, sein Flügelschlag ließ sie blinzeln.
Sie setzte sich auf. Sauberkeit floss ihr in die Nase. Helles, freundliches Blau ergoss sich über ihre Augen. Als sie an sich herabsah, erblickte sie ein weißes, hübsches Kleid.
Staunend sah sie sich um.
Direkt vor ihr hatte jemand ein Bild gemalt. Es war wundervoll bunt, die Farben bewegten sich, sie waren ein See, unterhielten sich. Sie lächelten ihr gütig zu und Lisa war glücklich, so viele Bilder in einem Bild zu haben und sie las, dass jemand "Für Lisa" darunter geschrieben hatte, in einer schönen, schwungvollen Schrift.
Vögel sangen für sie, als sie sich erhob und sich noch immer ungläubig umblickte.
Pinga kroch unter der Daunendecke hervor. Seine Augen strahlten, als die Umgebung über sie einfiel.
Lisa spürte den weichen Boden unter ihren Füßen. Er hatte eine schöne, fruchtbare Farbe und direkt vor ihrem Bett blühte eine rosarote Orchidee, die sich ihren Weg gebahnt hatte, vom Untergrund bis hierher, durch den Boden hindurch.
Lisa streichelte die sanften Blätter.
"Das Paradies ist zu uns gekommen!", sagte Pinga und umarmte Lisa.
"Ja.", sagte Lisa und lächelte. "Es hat uns gefunden."
Es war das Land hinter den Menschen, denn niemand war hier, nur Lisa und ihr kleiner Pinga und der Kleiderberg war ein echter Berg geworden. Starr und hart und wenn Lisa auf ihm kletterte, dann blieb er still und bewegte sich nicht.
Lisa malte und fütterte den großen, gelben Kasten und er aß gierig, was sie ihm gab und bedankte sich mit einem lächelnden Schweigen. Lisa lief umher, spürte die Freiheit und den weichen Luftzug, das Rauschen weit entfernter Würmer, die keine Gefahr waren.
Lisa spielte mit Pinga und Pinga lachte oft und seine Augen glänzten und er lachte auch, als Lisa fragte, warum er erst jetzt mit ihr redete. Er lachte einfach nur und zerschnitt die Schnur an Lisas Fuß.

Zu mir selbst gibt es nicht viel zu sagen, ich bin ein 17jähriger Schüler eines Gymnasiums und schreibe seit kurzem eigentlich in jeder freien Minute. Wie sich das gehört, lese ich auch gerne und viel. Je nach Zukunft strebe ich ein Germanisktikstudium an, habe mich aber längst noch nicht festgelegt. Das war's von mir...