Leumond
Februar 2004

Wie das Leben so spielt


Frauke Gimpel



"Meine Güte", Simone ist sichtlich entnervt. "Lange halte ich das nicht mehr aus!"
Bernd beugt sich zu ihr herüber und küsst sie flüchtig auf die Wange. "Na, wir werden da schon durch müssen. Keine Sorge, irgendwann wird er es auch noch lernen."
"Ja, aber gegen dieses Briefkastensterben ist doch kein Mensch versichert! Er meuchelt sie schneller hin, als Rechnungen reinflattern!" Simone legt die Morgenzeitung beiseite. "Gut, ich fürchte ich bin dran. Du bist beim letzten Mal gegangen, oder?"
"Ja, aber wenn du Glück hast, war's diesmal wenigstens wieder unserer. Wenn er noch einmal den von Schulzes erwischt, streich ich ihm für einen Monat das Taschengeld."
Simone wirft einen letzten Blick auf das Schlachtfeld des übergroßen Frühstückstisches, ihre halbleere Kaffeetasse und die Schalen ihrer Blutorange. Nicht mal sonntags morgens konnte sie ausspannen. Bernd hatte sich schon wieder in die Zeitung vertieft. Alltag am Sonntag.
Sieben Kinder hatte sie sich für ihr Leben nicht vorgestellt. Aber eigentlich wird alles zur Routine. Ihre drei, die drei von Bernd und dann noch ein Kleines hinterher.
"Fruchtbar zu sein ist doch ein Segen!" Trotzdem hatte die Hebamme auf die sechs Kinder vor dem Kreißsaal einen irritierten Blick geworfen. Gut, dass sie nicht alle hatte gebären müssen. Sonst wär' viel früher Schluss gewesen. Oder Dauermigräne. Die Verhütung der Neunziger. Allerdings: Auch mit sieben Kindern stellt sich Migräne schneller ein, als man Tabletten 'ranschaffen kann. Man gewöhnt sich an alles. Besonders ans Chaos. Und irgendwann mutiert man zum Roboter, schmiert Brote, deckt den Tisch, stapelt Handtücher und wechselt Windeln in drei Größen als hätte man nie etwas anderes gewollt. Und hat man das je?

Nur zwei Schritte vor die Haustür genügen. Tim, ihr Ältester, ist gerade achtzehn und dummerweise letzten Monat von Oma mit einem Auto bedacht worden. Patchwork-Familie nennt man das heute. Aber was vier Großmütter mit Alleinherrschaftsanspruch bedeuten, davon macht man sich keine Vorstellung, bis man mittendrin steckt.
Diesmal hat Tim tatsächlich nur den eigenen Briefkasten umgefahren. Allerdings zum siebten Mal. Bernd nagelt ihn mittlerweile nur noch an eine dünne Dachlatte. Früher hatte er auf einer stabilen Holzsäule gethront. Solide, wie alles in ihrem Leben einmal war. Eine tiefe Beule in der Stoßstange des Opels zeugt heute noch davon.
"Noch sechs Kinder, dann kommt der wieder auf was Stabiles. Aber bis dahin soll der knicken, wie eine Orchidee im Wind. Lieber opfere ich Dachlatten, als Blech." Sein Pragmatismus ist umwerfend.

Simone sieht auf ihren Sohn, ohne viele Worte zu machen. Er weiß ohnehin, dass die rote Karte wieder einmal gezückt ist. Der Jüngste noch nicht einmal auf dem Schaukelpferd, der Ältestes schon wieder im Rosenbeet.
Nichts ist so geblieben, wie sie es sich erträumt hatte. Aber auch die Veränderung kann eine Konstante werden. Mit neunzehn Jahren und nach der ersten Hochzeit blickte sie beim Aufwachen auf die Kuppel der sixtinischen Kapelle in Rom. Mit neunzehn weiteren Jahre und nach der zweiten Hochzeit sieht sie auf die Türme eines Kohlekraftwerks im Ruhrgebiet. Morgen für Morgen. Seit der Scheidung und vier weiteren Kindern redet sie sich erfolgreich ein, dass sie mit all dem zufrieden ist.
Als Tim an ihr vorbei ins Haus schleicht, das Auto noch mitten im Beet, kann sie den Blick nicht mehr von den Kühltürmen wenden, aus denen watteweiche Wolken quellen. Wann war sie gegen die Realität geprallt? Irgendwann unterwegs.