Leumond
Februar 2004

Lunar Orchid


Peter Adlersburg



Als der kleine Spacecruiser die Ausfahrtsschleuse von Wien-Zwo hinter sich ließ, schloss Caissa kurz die Augen. Verblödete Menschheit, dachte sie, den Mond konnten sie kolonialisieren, aber wer erfindet endlich mal ein Mittel gegen Migräne?
"Erwartete Ankunftszeit in sechzehn Minuten", meldete sich die Stimme des Steuerroboters aus dem Fond des Cruisers. Caissa warf einen kurzen Blick zurück auf ihre Heimstatt, deren Techplast-Kuppel im Licht der aufgehenden Erde die Farbe einer saftigen Blutorange angenommen hatte. Nicht, dass Caissa jemals eine Blutorange gegessen hatte, aber sie hatte Abbildungen gesehen. Die Ausbilder legten großen Wert darauf, den Mondgeborenen ständig vor Augen zu führen, was sie verpassten.

In den Mondkolonien gab es keine natürlichen Ressourcen. Wie auch? Der Mond war so fruchtbar wie die Wüste Gobi, ehe es den Menschen, kurz nach der Ära des Briefkastensterbens, gelungen war, auch diesen Landstrich in ein blühendes Paradies zu verwandeln. Caissa vermisste jedoch nichts. Sie war mit Synth-Nahrung groß geworden, hatte als Kind hingebungsvoll mit ihrer Schaukelpferdsimulation gespielt und kannte das Wort "Kohlekraftwerk" nur von ihren Recherchen im Orb-Net. Aber das soll nicht heißen, dass Caissa keine Träume hatte. Und auf dem Weg zur Erfüllung von einem dieser Träume war sie gerade.

"Erwartete Ankunftszeit in acht Minuten", ließ sich der Steuerroboter vernehmen. Acht Minuten, dachte Caissa, dann sehe ich sie. Beim Gedanken an das, was jetzt so unmittelbar vor ihr lag, ließen ihre stechenden Kopfschmerzen nach. Wie lang hatte sie auf diesen Augenblick gewartet? Vier Jahre? Fünf? Endlich kam die Kuppel der Mondlogistik in Sicht. Hier trafen sämtliche Lieferungen von der Erde ein.
"Stark korrodiertes Sedimentgesteinfeld voraus", meldete der Roboter.
"Umfahren", wies ihn Caissa an. Nur jetzt keine Panne riskieren. Der Cruiser änderte den Kurs um einige Grad. Die Verspätung, die Caissa mit diesem Manöver in Kauf nahm war unerheblich.

Nur wenige Minuten später öffnete sich die Einfahrtsschleuse zur Mondlogistik und der Cruiser dockte an einer der Parkbuchten an. Caissa kannte das Mädchen am Ausgabeterminal. Sie hieß Dora, eine Mondgeborene, wie sie selbst, und eine ihrer besten Freundinnen. Dora lächelte, als Caissa jetzt vor ihr stand.
"Heute ist es soweit, was?", begrüßte sie die Freundin. Caissa brachte vor Aufregung nicht mehr als ein kurzes Nicken zustande.
"Du musst mir den Empfang bestätigen", meinte Dora und reichte Caissa ein elektronisches Tablett. Caissa tat, wie verlangt und sah Dora zu, wie sie vorsichtig ein Paket aus einem der mannshohen Regale im Terminal hob. Sie stellte es vor Caissa ab. Endlich, dachte Caissa, als sie das Paket nahm. Sie widerstand dem Drang, es sofort zu öffnen, winkte Dora noch einmal kurz zu und machte sich mit ihrer Fracht wieder auf den Weg nach Hause.

Seit zehn Minuten saß Caissa nun vor ihrem Paket, das sie auf dem winzigen Tischchen in der Mitte ihrer Wohneinheit abgestellt hatte. Sie fixierte die Plakette, auf der Name und Anschrift des Absenders zu lesen war: Jesus Nogueiras, Buenos Aires, Argentinien, Erde. Der Mann war in seinen Kreisen ein Mythos, ein Virtuose, ein Gott, und als Caissa vor Jahren von ihm in einer E-Geo gelesen hatte, wusste sie, dass sie ihn kennenlernen musste. Und so hatte sich zwischen den beiden ein reger Mailverkehr entwickelt und Caissa hatte es geschafft, dass Jesus, der Großmeister seines Faches, sie, die Unwissendste unter allen Laien, nach und nach in die hohe Kunst seiner Passion eingeführt hatte: die Orchideenzucht. Caissa war sofort von dieser Kunstfertigkeit fasziniert gewesen. Die Möglichkeiten, die Feinheiten, die Formen, Farben und Zuchtvarianten, die das Orchideenzüchten offerierte, hatten sie in ihren Bann geschlagen, und bald schon war sie zu einer Expertin geworden. Zu einer Spezialistin von Meisters Gnaden.

Leider fehlten ihr auf dem Mond die Möglichkeiten ihre neu gelernten Kenntnisse auch in die Praxis umzusetzen. Sie hatte keine Chance an ein Gewächshaus heran zu kommen und es war ebenso ein Ding der Unmöglichkeit, jenen perfekten Humus zu beschaffen, der für die Aufzucht von Orchideen am Besten geeignet war. In einem ihrer Briefe hatte sie Jesus gegenüber einmal ihrer Frustration zu diesem Thema Ausdruck verliehen, was damit geendet hatte, dass er ihr angeboten hatte, unter Caissas Aufsicht eine Züchtung zu beginnen. Von ihr sollten alle Anweisungen kommen und er erklärte sich bereit ihre Hände und Augen zu sein. Er versprach, jeden der von ihr vorgegebenen Arbeitsschritte peinlich genau zu befolgen, ohne sich einzumischen.

Und nun stand das Ergebnis ihrer gemeinsamen Bemühungen, die Frucht jahrelanger Arbeit, vor ihr auf dem Tisch, sorgfältig und fachmännisch verpackt, um die lange Reise unbeschadet zu überstehen: Lunar Orchid, so hatte sie ihre Schöpfung getauft. Caissa erinnerte sich an all die Mühen, die deprimierenden Rückschläge, an die Verzweiflung, die über sie gekommen war, wenn dieser oder jener Zuchtversuch fehlgeschlagen war. Aber sie hatte es geschafft und das Ergebnis war einfach perfekt. Sogar Jesus hatte zugegeben, dass diese Orchidee das schönste und vollkommenste Produkt einer Züchtung sei, das er je gesehen hatte. Caissa warf einen Blick auf das Pinboard. Dort hingen Farbausdrucke von Lunar Orchid, angefertigt unmittelbar bevor Jesus das Paket auf den Weg geschickt hatte. Sie ist wundervoll, dachte Caissa. Und bei diesem Gedanken schossen ihr die Tränen in die Augen. Und es waren keine Tränen der Freude. Sie wird sterben, sterben, sterben, ging es Caissa immer wieder durch den Kopf. Sobald sie das Paket öffnen würde, wäre das das Ende für Lunar Orchid, denn Caissa hatte nicht die Möglichkeit, der Pflanze die klimatischen Bedingungen zu bieten, die dieses empfindliche Geschöpf benötigte. Eine Woche allerhöchstens würde sich Caissa an der Pracht erfreuen können. Sie wusste das und auch Jesus wusste es, aber mit keiner Silbe hatte er versucht, Caissa davon abzuhalten ihr Werk mit eigenen Augen sehen zu können, auch wenn ihm dabei - davon war Caissa überzeugt - das Herz blutete.

Caissa wischte sich die Augen wieder trocken. Es war an der Zeit Entscheidungen zu treffen. Das war ihr bewusst. So bewusst, wie sie sich ihrer Gefühle für die Orchidee war, die sicher und geborgen in der Verpackung vor ihr stand. Caissas Finger streichelten behutsam, zärtlich über die raue Oberfläche des Pakets. "Du, meine Schönheit", murmelte sie, blickte noch einmal auf die Bilder an der Wand und betätigte dann einen Schalter an ihrem Interkom. Eine Männerstimme meldete sich und fragte sie nach ihren Wünschen. Sie schluckte, räusperte sich. "Ich brauche einen Spacecruiser zur Mondlogistik", war alles, was sie heraus brachte.

für Moni