Leumond
Februar 2004

Bonjour Tristesse


Susanne Bloos



Morgens bin ich nicht ansprechbar. Mein Kopf will zurück ins Kissen, darf aber nicht. Er straft mich, indem er mir vormacht, meine Wohnung drehe sich um mich. Ich besteche ihn mit einer Blutorange. Keine Ahnung, wie ich darauf gekommen bin, seit Jahren esse ich morgens eine Blutorange. Keinen Kaffee dazu, keinen Tee. Ich bekomme sonst nichts runter, muss mich bei allem augenblicklich übergeben, nur meine Blutorange behalte ich bei mir.
Es ist schon fast ein Ritual: Aus dem Bett klettern, an der Wand festhalten, im Regal nach der Orange tasten, aus der Spüle ein Messer angeln, hinsetzen, abpellen, jedes Stückchen einzeln in den Mund schieben. Kauen, schlucken, dem herbsüßen Saft nachspüren, wie er die Kehle hinunter rinnt und mit einer Explosion im Magen die Lebensgeister weckt.

Im Treppenhaus steht die alte Zora und macht ein trauriges Gesicht. Keiner weiß, wie sie wirklich heißt, der Name ihres Klingelschildes ist längst abgeblättert, nur "...zora..." kann man noch entziffern. So kam sie zu ihrem Spitznamen. Ich mag sie, auch wenn die anderen auf sie schimpfen. Sie kommt mit der Schnellebigkeit der Zeit nicht mehr zurecht, aber wie auch? Als sie in meinem Alter war, herrschte Krieg und die Post brauchte Monate. Heute scheint unser Land trügerisch friedlich und E-Mails brauchen nur noch Sekunden um die Welt. Ihr Blick hält sich an mir fest, zieht an meiner Jacke. Ich bleibe stehen, müsste das Kleidungsstück sonst wohl hier zurücklassen. Sie erzählt mir, dass das Briefkastensterben nun auch unseren Stadtteil erreicht hat. Eben wollte sie einen Brief wegbringen, aber dort, wo der gelbe Kasten seit Jahrzehnten hing, gähnte nun eine Lücke, wie eine Wunde in der Haut der Stadt. Ich kann Zoras Blick nicht ertragen und verspreche, ihren Brief einzuwerfen. Er soll nach Panama, zu ihrer Tochter.
Der Absender lautet "Eva Katzorak".

Von meinem Büro aus sehe ich die Kuppel der neuen Arena. Sie steht da nun schon eine Weile und ich weiß immer noch nicht, ob sie mir gefällt. Sie ist hell und strahlt weit in die Gegend hinaus, aber das alte Stadion war Nostalgie, war Erinnerung, war meine Kindheit, meine Jugend. Im angrenzenden Freibad habe ich viele Sommer verbracht, habe hier die ersten Jungs getroffen, den ersten Kuss getauscht, bin hier erwachsen geworden. Das Bad musste dem Neubau weichen, und mit ihm starb meine Vergangenheit. Meinen Kindern werde ich davon erzählen können, doch vorstellen kann man sich nur, was man gesehen hat. Sie werden nur moderne Bäder kennen, mit Rutsche und Whirlpool. Zwei Becken, ein großes, ein kleines, sechs Bahnen mit Startblöcken und lediglich ein Einmetersprungbrett, das wird ihre Fantasie übersteigen.
Ich sehe die Kuppel an und bin nach wie vor nicht per Du mit ihr.

Mein letzter Freund hatte ständig Migräne. Vor dem Aufwachen, nach dem Sex. Einmal habe ich ihn gefragt, ob es psychosomatisch sei, sein verständnisloser Blick war göttlich. Seine Reaktion, nachdem ich den Begriff erklärt hatte, weniger. Drei ganze Tage war er eingeschnappt, an Sex war auch ohne Migräne nicht mehr zu denken. Ich hab' ihm schließlich Aspirin ins Müsli gemischt. Keine Ahnung, ob es was gebracht hat, er ist dann mit meiner Kollegin abgehauen. Nach drei Wochen stöhnte sie über seinen sexuellen Appetit und wollte sich von ihm trennen.

Auf dem Weg nach Hause blockiert eine prall gefüllte Plastiktüte die Fahrbahn. Ich umfahre sie gekonnt, mein Auto hat Allradantrieb. Dass ich dabei fast einen alten Mann umfahre, bemerke ich nur noch an seinen wütenden Gesten, die ich im Rückspiegel erkenne. Ich ducke mich, als könne ich so mein Nummernschild unkenntlich machen und hoffe, dass er kurzsichtig ist. Ich fahre gut, nur sammeln sich die Knöllchen wegen Geschwindigkeitsübertretungen. Manchmal falte ich Schiffchen draus und lasse sie bei Regenwetter auf den Pfützen schwimmen.

Im Treppenhaus begegnet mir wieder Zora. Ich kann nicht anders, als sie so zu nennen, auch wenn ich ihren Namen jetzt kenne. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, und sie hat sich längst an ihren Spitznamen gewöhnt. Vielleicht hat sie die rote Zora als junge Frau ihren Kindern vorgelesen und genauso geliebt wie ich. Mit dem Namen eines starken Mädchens bedacht zu werden, ist keine Schande. Sie fragt nach dem Brief. Ich nicke, ja, ich habe ihn eingeworfen. Sie lächelt, dankt mir, reicht mir eine Tafel Schokolade. Ich bin gerührt, stammele ein Dankeschön. Sie sagt, solange es Menschen wie mich gäbe, sei die Hoffnung noch nicht verloren. Ich frage, was sie meint, sie raunt nur "Roboter", ich weiß nicht recht, was sie mir damit sagen will. Vielleicht hat sie Angst vor ihnen, glaubt, bald von ihnen ersetzt zu sein. Sie muss nichts befürchten, sie ist zu alt für dieses Schicksal.

In meinem Flur steht ein Schaukelpferd. Es ist alt und abgewetzt, schon meine Mutter saß darauf und wiegte sich in eine Glückseligkeit voller Freiheit und Wind. Die Fantasie versetzt Berge, und auch ich hatte manches Mal einen langen Weg aus der Steppe in die Küche, wenn es Abendessen gab.
Heute, wenn ich abends nach Hause komme, gebe ich ihm lediglich einen sanften Stupser mit dem Fuß und sehe zu, wie es ohne mich ins ferne Amerika fliegt, wie seine Mähne im Wind flattert, wie es sich mit der Herde vereint. Meine Vorstellungskraft reicht nicht mehr für uns beide, und ich habe Wichtigeres zu tun, als Träume zu jagen. Mein Schreibtisch quillt auch hier über, der Whisky erleichtert meine Nachtschicht.

Eine Geschäftsreise ins Ruhrgebiet hat mich einst erschüttert. Die Häuser waren graubraun, die Straßen schmutzig, die Luft quoll dick und fast schon sichtbar durch die Gassen. Ich hustete noch Tage später, der Bergbau und die Kohlekraftwerke hatten sich nicht nur in mein Gedächtnis eingeprägt.
Heute sieht es anders aus dort, aber mein Kopf hat dieses Bild gespeichert, es ist eingebrannt, wie eine Radierung lässt es sich nicht mehr rückgängig machen. Ich saniere die Häuser vom Rechner aus. Keinen Schritt muss ich vor die Tür machen und doch geschieht alles wie von Zauberhand. Die Arbeiter, die vor Ort ans Werk gehen, sind in meiner Vorstellung kaum vorhanden, ich habe sie nie gesehen.
Was wird mich aus der Zeit katapultieren, so wie einst Zora von den neuen Medien hinausgeworfen wurde? Könnte ich es mir vorstellen, hätte es keine Macht über mich. Ich werde abwarten und alt werden und eines Tages neben dem Geschehen stehen.

Schlaflos wälze ich mich hin und her. Irgendwo im Haus quietscht ein Bett. Nur Zora und ich leben allein, vor allen anderen Türen stapeln sich Kinderschuhe in verschiedenen Größen und zeugen von Fruchtbarkeit. Manchmal wünsche ich mir, eine von ihnen zu sein, doch das geht meistens schnell vorbei. Ich bin nicht häuslich, nicht mütterlich, ein Kind wäre gestraft mit mir.
Und doch gab es einen, mit dem hätte ich es gewagt. Für ihn hätte ich mich geändert, wäre zu Hause geblieben, hätte unsere Kinder großgezogen, sie zur Schule gebracht, ihnen aus der roten Zora vorgelesen und sie aus ihren wilden Reiterträumen an den heimatlichen Abendbrottisch geholt. An dem Tag, an dem ich ihm einen Antrag machen wollte, sagte er mir, dass er einen Mann liebe und ging am nächsten Tag mit diesem fort.

Als ich am Morgen erwache, fällt mein Blick aufs Fensterbrett. Meine Orchidee blüht, zum ersten Mal seit drei Jahren. Ich lächle sie an und gehe in die Küche. Die letzte Blutorange ist verschimmelt, und ich mache mir ein Käsebrot. Mein Magen ist gnädig zu ihm.
Vielleicht ist mein Leben doch nicht so trostlos, wie es mir immer erschien. Auf dem Weg zum Auto esse ich die Schokolade von Zora und nehme mir vor, ihr heute Abend meine Orchidee zu schenken.

Ich wurde am 15. Mai 1977 in Hamburg geboren und bin dort bis zum Abitur zur Schule gegangen. Seit 1997 studiere ich in Kiel, zuerst Medizin, inzwischen Literatur- und Medienwissenschaft, Anglistik und Psychologie. Ich schreibe, seit ich denken kann... Mindestens seit 16 Jahren, so weit kann ich mich daran erinnern. Mit siebzehn habe ich den ersten Preis unseres schulinternen Schreibwettbewerbes gewonnen, inzwischen zwei Veröffentlichungen in Magazinen. Seit Sommer 2001 bei www.kurzgeschichten.de unter dem Nickname "chaosqueen" online, seit Januar 2002 auch als Moderatorin.