Zeitvergehen
Harald Stangor
Einem nicht allzu hohen Gericht gebe ich im Folgenden die Liste meiner Zeitvergehen zu Protokoll, streng geordnet nach dem steigenden Grad ihrer Verwerflichkeit, die, wie es sich häufig ergibt, zugleich die Ordnung nach der Zeit ist. Die Zeit ist die Zeit meines Lebens. Sie beträgt heute fünfundzwanzig Jahre, da ja mein Alter ein Menschenalter ist. In diesen fünfundzwanzig Jahren, einer lachhaften Spanne, wenn man die Jahrhunderte mitbedenkt, und eine Ewigkeit gegen das tägliche Keuchen des Tieres, habe ich Schuld auf mich geladen, die in einem weiteren Menschenalter nicht abzutragen wäre. Ich bekenne mich schuldig:
Ich bekenne mich schuldig des Zeitdiebstahls. Am Anfang dieses Menschenalters standen die Schreie eines Kindes, das nichts Besseres wusste, als seinen Eltern für kleinste Verrichtungen die Zeit zu stehlen. Wachsen will gelernt sein, und ich lernte es nur unter den milden Augen derjenigen, die ich immer durch Schreie anzulocken wusste. Sie kamen, weil ich sie zwang. Sie waren gutwillig, gutmütig; sie waren gut, was meine Schuld vergrößert. Ich nutzte meine unvollkommene Lage aus und ihre, und ich erpresste sie mit unschuldigstem Gesicht und Körper. Ich spreche hier von Diebstahl, weil sie mit all ihrer Zeit zu mir kamen und mich ohne sie verließen, nur um beim nächsten Schrei mit neuer Zeit zurückzukehren. Sie haben diese Zeit nicht vermisst, was meine Schuld nicht schmälern soll. Ihre Zeit wurde weniger, während ich mit der Zeit wuchs. Das kann kein Zufall sein. - Ich habe erfahren, was sie an dieser Zeit verloren haben, diese damals selbst ein Menschenalter jungen Eltern; was sie geopfert haben. Sie haben mir die Trophäen gezeigt, die ich ihnen geraubt habe. Hosen mit Schlag. Zärtliche Wiesen. Weites Bewusstsein. Wovon sie keine Reste hatten, hatten sie Fotos, und das andere beschrieben sie. Hosen, Wiesen, Bewusstsein. Daher, sagten sie mir, käme ich. Ich dankte ihnen für das Abholen, indem ich ihnen die Zeit stahl.
Ich bekenne mich schuldig der Zeitunterschlagung. Ich bemerkte irgendwann, dass sie mir Zeit gaben in der Annahme, sie würden sie zurückerhalten, am anderen Tag vielleicht, dann, wenn ich größer wäre. Zwar haben sie nicht darüber geklagt, aber was sie mir liehen, habe ich zum geringsten Teil je zurückgegeben. Nicht sehr bewandert in Dingen der Kriminologie und Jurisprudenz, mag ich hiermit der Unterschlagung schuldig sein oder der Veruntreuung dieser Zeit, da ich sie ja direkt aus den Händen der Besitzer empfing, oder auch beider Vergehen; schuldig bin ich ohnehin, ich lamentiere nicht um ein Etikett.
Ich bekenne mich schuldig des Zeitbetruges. Dass ich den Menschen, die mir am meisten vertrauten, dieses schlecht dankte, wird nun nicht mehr überraschen. Nicht selten habe ich auch in anfangs Fremden das Gefühl geweckt, ich bräuchte ihre Zeit für einen guten Zweck, obgleich sie sie weitaus nützlicher hätten einsetzen können und ich gänzlich ohne sie ausgekommen wäre. Ich war nicht gern allein und log drum viel. Man dankte mir mit Glauben und Zeit. Das war nicht nötig; ich mag also verwerflich gehandelt haben. Andererseits tat es mir gut. Ich halte das nicht für eine Entschuldigung, nur für eine Wahrheit ohne Bedeutung in diesem Prozess. Zu dieser Zeit, soweit ihnen solche verblieb, trugen meine Eltern kurze, aber teure Haare; die Hosen waren weit enger, die Wiesen endgültig Teppiche, das Bewusstsein, wenn sie es noch erwähnten, mit Pflicht gefüttert. Damals betrog ich schon weniger sie, denen ich nicht sehr geschadet hätte, als diejenigen, deren Zeit frisch und wertvoll war. Das war mehr Instinkt als Berechnung, aber auch das soll nicht als Entschuldigung dienen. Die Zeit ließ sich, wie jede Zeit, recht gut in Werten ausdrücken, und diese war wertvoll, und dies sehr konkret, man konnte die Werte zählen und in bare Münzen tauschen.
Ich bekenne mich schuldig des Zeitraubes. Es ist leider nur zu wahr, dass ich immer wieder die, die ein wenig Zeit hatten, offen um sie bedrängte, ich war nicht besser; zeitraubend sogar bei denen, die mich liebten, ja, besonders ihnen habe ich von ihrem Kostbarsten gestohlen. Auch und gerade dann, wenn ich ahnte, dass mir nicht mehr lange Zeit gewährt werden würde, griff ich mit beiden Händen danach und ließ sie nicht mehr los. Ich richtete zu diesem Zweck einige wohlgezielte Worte auf mein augenblickliches Gegenüber und sprach von Lohn irgendeiner Art; nie von Geld, von dessen Belanglosigkeit man unter Herangewachsenen inzwischen wusste; bisweilen von eigener Aufmerksamkeit, die ich eines Tages bei irgendeiner mich unbetroffen lassenden Geschichte ihrerseits ableisten würde, was ich nie gänzlich einlöste; häufig aber, wenn der Zuhörer des anderen Geschlechtes war und selbst jung genug, von Liebe - es waren die Neunziger, und insgeheim machte sich Liebe recht gut. Auch Liebe löste ich letztlich nicht ein. Ich weiß auch hier keine klare Grenze zwischen Raub und Erpressung oder Nötigung und wessen ich mich nicht noch schuldig gemacht haben mag; ich bleibe bei Raub, man verurteile mich in Bausch und Bogen dafür. Meine Eltern hatten inzwischen aufs Erschreckendste an Bedeutung verloren, was eine Folge meiner Lebenszeit war und nötig, obwohl ich den jungen Eltern bisweilen nachhing. Alte waren inzwischen auf geheimnisvolle Art an ihre Stelle getreten, alte Eltern, deren Hosen ausgewählt waren und deren Haare sich in der Zeit verloren.
Ich bekenne mich schuldig des Zeittotschlags. Damals wusste ich es noch nicht besser, für die Fälle jener Zeit beteuere ich: Es war kein Mord, ich handelte in Panik. Aber es geschah eben, und es geschah wiederholt: Wenn mir plötzlich etwas Zeit zwischen die Finger geriet, mit der ich einmal nichts, aber auch gar nichts anzufangen wusste, so gab ich sie dennoch nicht frei; aus Angst, etwas zu verlieren, klammerte ich mich so fest an jede Sekunde, dass ich ihr den Puls nahm. Ich selbst war der Erschreckte, der Erschrockenste, wenn ich nach weiteren verlorenen Minuten klar genug wurde, meine Tat zu erkennen. Ich hatte in der Angstraserei getötet. Zu der Zeit, ich schwöre das, obwohl es bei der Menge und Schwere meiner Zeitvergehen keinen Unterschied mehr machen würde, selbst bei einem höheren Richter: Zu der Zeit mordete ich nicht. Die Zeit, da mir die Tat bewusst war, kam später.
Ich bekenne mich schuldig des Zeitmordes. Als ich im neuen Jahrtausend endlich in der wachsenden Zahl derer war, die ihre Zeit nicht mehr zu füllen wussten, weil es plötzlich die vielen großen, sich aufbäumenden Stunden gab, in denen sich nichts anbot als nutzloses Warten auf eine weniger rationelle Zeit - da begann ich zu morden. Ich hatte Zeit, um über ihre Vernichtung nachzudenken, und ich tötete sie auf tausend verschiedene Arten. Der Not gehorchend, könnte ich mich entschuldigen, und ich könnte sagen, dass ich ohne jede echte Wahl war. Wiederum würde das dieses Gericht, das einzige, das mich ganz und gar durchschaut, nicht beeindrucken, und das zu Recht. Ich entschuldige mich nicht mit den heutigen Umständen, da die Liste der nicht entschuldbaren Gräuel schwer genug wiegt; was soll ich sie, gar durch mein Wimmern, um die Nachträge zu reduzieren trachten, die, gäbe es eine Gerechtigkeit, vielleicht das siebte oder achte Todesurteil von mir abwenden könnte, niemals aber das erste, zweite? Ich mildere meine Vergehen nicht, das nicht; vielmehr, ich bekenne mich ganz und gar schuldig.
Ich bekenne mich schuldig. Einem nicht allzu hohen Gericht, nämlich meinem Gewissen, in dem ich auf einen gütigen Richter hoffen darf, gebe ich diese Liste meiner Zeitvergehen zu Protokoll. Die Liste ist lang, auch dies gestehe ich ohne Zögern. Ich überantworte mich der Gnade des nicht allzu hohen Gerichtes, da ich keine wahreren Rechtfertigungen geltend machen kann. Das eine nur, und dies immer wieder: Ich bitte um Milde, da auch ich nur ein Getriebener bin, auch ich nur ein Betrogener; ich bitte um Milde für jeden Missbrauch meiner Zeit, den ich aus Angst beging, sie, unbeschäftigt, ganz aus den Fingern zu lassen. Das eine schließlich, was alles entschuldigen soll und, wie ich weiß, nichts entschuldigen wird: Ich bitte um Milde wegen meines frühen Zeitverlustes, der mich gemacht hat, wie ich bin.
Harald Stangor geht einem höchst bürgerlichen Beruf nach und dilettiert in freien Minuten in Prosa, Lyrik und Drama, mit besonderer Vorliebe auf Kabarettbühnen.