Paul, Francis und Ich
Birgit Paltram
Paul war mein Freund. Seit der ersten Klasse. Wir sahen uns und waren Freunde. Damals hieß Paul noch Pauline und trug die Kleider, die ihre Mutter ihr in dem kleinen Laden am Ende unserer Straße ausgesucht hatte. Ich trug die alten Sachen meiner Brüder, verwaschene Jeans mit Flicken, T-Shirts mit Monstern darauf und Turnschuhe, aus denen mein Bruder Tom herausgewachsen war.
Als wir dreizehn wurden verließ der Vater von Pauline die Familie und aus Pauline wurde Paul. Anfangs lieh sie sich die Sachen von mir, dann wurde sie mutiger und wir kauften in dem selben Laden, in dem Paulines Mutter die Spitzenkleider und Schürzen bestellt hatte, Hemden für Jungen und Sportjacken.
Aus Pauline war Paul geworden, ein sportlicher Paul, der gerne am Fußballplatz war und sich anschließend mit einer Dose Bier vor den Umkleidekabinen herumdrückte. Zu dem Zeitpunkt hatte sie den alten Friseur Mister Harper schon dazu überredet, ihr die Zöpfe abzuschneiden und den Pony zu kürzen. Ich saß auf einem der anderen Stühle und sah zu, wie der alte Mann Mühe hatte, die Tränen zurückzuhalten. Der lange Zopf landete in einem blauen Plastiksack in der Ecke des Friseurladens. Auf das frischgestutzte Haupt zog Paul eine Baseballkappe, die jemand auf den Zuschauerplätzen hatte liegen lassen. Es dauerte zwei Jahre bis ich Paul ohne diese Kappe wieder zu sehen bekam. Mit sechszehn wurde aus dem sportlichen Paul, der ein Knabe war, ein Mann. Wir waren auf Bäume gestiegen, hatten Autoreifen zerstochen, Steine nach den älteren Jungen geworfen, wenn sie mit ihren aufgemotzten Motorrädern johlend vorbeibrausten. Wir bauten Baumhäuser und verbrachten in den Sommerferien die Nächte dort. Wir lasen uns Gespenstergeschichten vor und aßen tonnenweise Kuchen, den meine Mutter für uns buk. In der Schule ignorierte er jeden, der ihn Pauline nennen wollte. Die Lehrer gewöhnten sich daran und die Schüler hatten bald vergessen, dass Paul einmal ein Mädchen war.
Mit sechszehn legte Paul seine sportliche Kleidung ab und kaufte Anzug und Krawatte. Von diesem Tag an wechselte er täglich sein Hemd, ging in die Wäscherei und bügelte einmal die Woche einen Berg weißer Hemden und schwarzer Hosen. Seine Schuhe aus schwarzem oder braunen Leder glänzten in der Sonne. Mister Harper hatte die ausgefranste Jungenfrisur in einen noblen mit Pomade gestriegelte Herrenkopf verwandelt. In der Schule drehten sich die Mädchen nach ihm um und kicherten, später und an den Freitagabenden hingen sie an seinem Arm, um sein Rasierwasser zu riechen, dass er sich auf die bartlosen Wangen träufelte. Paul nahm nach der Schule eine Stelle an, trug den Damen der Stadt die Einkäufe nach Hause und lud mich von seinem Lohn Samstagabend ins Kino ein. Wir streiften durch die Stadt, ich trug etwas Pomade im Haar und kam mir lächerlich vor, aber ich war stolz einen Freund wie Paul zu haben, der hocherhobenen Hauptes neben mir war.
Paul war geachtet, die jungen Männer nahmen ihn auf ihren Motorrädern mit und erklärten ihm die Maschine. Paul nickte, er hatte zu jedem Thema eine Meinung, er war beliebt und ließ an Sonntagen eine Runde Eis für die Mädchen im Krämerladen springen. Ich war Pauls Freund, aber die Mädchen beachteten mich nicht. Wenn sie mich alleine sahen, fragten sie nach Paul, wo er denn sei. Die jungen Männer auf den Motorrädern ratterten an mir vorbei ohne jeden Gruß.
Im letzten Schuljahr kam Francis in unsere Klasse. Er war der Sohn des neuen Direktors und nahm den Platz des Lieblingsschülers in der Klasse ein. Er nahm auch noch andere Plätze ein, den des Schulsprechers, des Klassensprechers, des Fußballkapitäns, des Tanzkönigs, des Protagonisten in der Theaterschulaufführung und noch einige andere Plätze von denen ich nicht einmal wusste, dass sie existiert hatten. Francis freundete sich am ersten Schultag mit Paul an. Die beiden saßen in der Cafeteria am Tisch des Direktors.
Paul erklärte die Struktur der Schule und gab Auskünfte über die Lehrer und Schüler. In der zweiten Schulwoche fuhr Paul mit dem Direktor und Francis zu einem auswärtigen Fußballspiel, ich war zuhause, die Mädchen riefen nicht an und die jungen Männer fuhren anderswo mit ihren Maschinen.
Nach dieser Woche pendelten sich feste Punkte in Pauls Alltag ein, Freitagabend gab es ein Essen im Haus des Direktors, Freitag Abend waren wir immer in der Milchbar gewesen, hatten mit den Mädchen getanzt und an den Flipperautomaten gespielt. Samstagnachmittag spielte Paul nun Tennis mit Francis und ging anschließend mit der Familie des Direktors ins Konzert oder ins Theater. Samstagnachmittag hatten wir üblicherweise dem Training der Fußballmannschaft zugesehen, hatten Wetten abgeschlossen und Cola getrunken. Sonntag saß Paul nun in der Kabine des Direktors, um mit dessen Frau und Francis und der Tochter Claire das Fußballspiel zu verfolgen. Sonntag saßen Paul und ich früher in der ersten Reihe am Fußballplatz, wir konnten den Schweiß und die Aufregung der Spieler riechen, wir waren so nah am Geschehen wie sonst keiner der Zuschauer.
Paul hörte auf mich ins Kino einzuladen, die zweite Kinokarte reservierte er nun für Claire, falls der Direktor es erlauben würde, dass Paul und Claire ausgingen, ansonsten saß Francis neben Paul im Kinosessel. Er entschuldigte sich lächelnd und fuhr mit seinem Fahrrad zum Haus des Direktors. Ich hörte auf, mich umzusehen, wenn ich mittags in die Cafeteria kam. Es war kein Platz mehr für mich reserviert, mit meinem Tablett in der Hand setzte ich mich auf den erstbesten freien Stuhl, den ich ergattern konnte. In den nächsten Monaten sah ich Paul, wie er mir von der Ferne zuwinkte, während er am Tisch des Direktors in der Schule aß. Ich sah Paul, wie er aus dem Wagen von Francis grüßte. Ich sah Paul und Francis und Claire, wie sie aus dem Kino kamen. Ich sah Paul und Francis wie sie in der Milchbar die neue Karte mit Hamburger studierten. Ich sah Paul mit Francis vor den Umkleidekabinen der Fußballspieler, um ihnen zu gratulieren und ich sah Paul, wie er mit Francis die Motorräder der jungen Männer bestieg und davonbrauste.
Und ich sah Francis, wie er mit Paul die Mädchen belächelte, ich sah Francis wie er Paul etwas zeigte, wenn dieser mich grüßte oder winkte, sich sah Francis, wie er Paul seinen neuen Wagen erklärte und ihn durch die Stadt fahren lies und ich sah Francis wie er mich angrinste wenn Paul nicht hinsah.
Ich versuchte, andere Freunde zu finden, versuchte mit den Schülern aus der Klasse zu reden, aber es war niemand wie Paul, niemand konnte reden und lachen wie Paul, niemand konnte mit den Mädchen so reden wie Paul und niemand war an mir interessiert, wie Paul es gewesen war. So blieb ich für mich alleine, saß alleine in der erste Reihe am Fußballplatz. Wenn ich Geld hatte, ging ich alleine ins Kino und in der Milchbar sah in den Mädchen von der Ferne zu, wie sie schnatternd ihre Shakes tranken, während ich einen Hamburger aß oder Cola trank.
In den Sommerferien, in dem Jahr bevor wir zur Universität wechseln würden, besuchte ich meine Tante in den Bergen. Es war ein kühler und regnerischer Sommer gewesen und ich hatte die meiste Zeit damit verbracht, die Bücher meiner Tante zu lesen oder in meinem Tagebuch zu schreiben. In meinen Gedanken war ich bei Paul und Francis und musste daran denken, wie es gewesen wäre, wenn ich mit Paul diese Reise durch Europa unternommen hätte. Paul hatte sich am Telefon von mir verabschiedet, wir würden uns im Herbst sehen sagte er. Ja sagte ich und hatte aufgelegt.
Als ich zurückkam, lag die Zeitung in meinem Zimmer. Meine Mutter war blass und hatte geweint. Sie konnte mir nicht sagen, was passiert war. Die Zeitung schrieb über einen Jungen unserer Stadt, der zum Mörder geworden war. Ich las und konnte doch die Geschichte nicht verstehen. Die Namen waren gekürzt und verändert worden. Aus Paul war ein Junge namens C. geworden
Und Francis wurde mit S. bezeichnet. Ich musste die wenigen Zeilen immer und immer wieder lesen.
Die gemeinsame Reise, die die Freundschaft vertiefen sollte, war zum Fiasko geworden. Ein Drama, dass in jeder Stadt sich mehr und mehr ausgeweitet hatte.
In Rom schließlich hatte S. die Schande nicht mehr ertragen, dass ein Junge ihn begehrte. Er hatte ein Jagdmesser in seiner Tasche und hatte die Klinge dem verschmähten Liebhaber tief in den Bauch gestoßen.
"Die Klinge dem verschmähten Liebhaber tief in den Bauch gestoßen". Ich las diesen Satz, bis meine Augen brannten, bis ich schreien wollte und doch kein Wort kam.
Die Tasche stand noch gepackt im Raum. Ich nahm mein Geld und zählte es. Es würde bis Rom reichen.