Leumond
Oktober 2004

Ein Organist


Annika Senger



Arrogant gaffen sie von ihren Ahnenbildern auf die Gemeinde. Brave blonde Engel in roten und blauen Gewändern umgarnen die alten Herrschaften mit den gleichen hängenden Dackelwangen wie Dorfoberhäuptling von Schlötzel. Manchmal frage ich mich, ob in Adelskreisen Inzucht betrieben wird. Es kann doch kein Zufall sein, daß sich die kleinen grauen Schweineaugen und die verkniffenen schmallippigen Münder bei den männlichen Familienmitgliedern im Laufe der Geschichte kaum merklich verändert haben! Würden die unförmigen Körper der Herren auf den verstaubten Gemälden in grauen Anzügen stecken und ihre Lockenpracht gestutzt tragen, wäre kein großer Unterschied zwischen den längst vermoderten Ahnen und dem Freiherrn auf der Empore zu erkennen. Mit seinem überheblichen Blick will er mir sagen, daß ich nur ein kleiner arbeitsloser Versicherungsangestellter bin, der noch bei Vater und Mutter die Füße unter den Tisch stellt. Er weiß genau, daß ich vom Orgelspielen allein nicht leben kann!
Aber vorwerfen können die von Schlötzels mir nichts. Ich kann immer noch behaupten, daß ich mein Repertoire den Gottesdiensten angemessen beherrsche. Ich bin kein Meister meines Faches, wie ich leider zugeben muß, doch wenn ich regelmäßig übe, ist es für mich ein Kinderspiel, die richtigen Tasten zu treffen. Diese Tasten hier sind kalt wie Eisblöcke.
Je länger ich mich der Tortur unterziehe, diesem 50-Seelen-Dorf meine bescheidenen musikalischen Dienste anzubieten, desto mehr kommt mir der Verdacht, daß Familie von Schlötzel mein Leiden bis ins kleinste Detail geplant haben muß. Heizkosten werden hier absichtlich gespart, damit ich eher früher als später kapituliere und meine Orgelbank für Adele von Schlötzel freiräume! Die frommen von Schlötzels lassen keinen Gottesdienst aus. Bei so viel Frömmigkeit ist es doch mehr als selbstverständlich, daß die Tochter des Hauses selber Orgel spielt. Den von Schlötzels gehört sogar die Kirche, die kaum größer ist als die Wohnstube meiner Eltern. Adele durchbohrt mich mit ihren schwarzen Schielaugen. Nein, als Schönheit möchte ich Adele gewiß nicht bezeichnen. Wie alle weiblichen von Schlötzels hat sie einen markanten Silberblick vererbt bekommen. Dieser Silberblick, den ihre dicken schwarzen Brillengläser nur mühsam zügeln, verfolgt jede Bewegung meiner vor Kälte ganz klammen Finger. Sobald ich eine falsche Taste drücke, höre ich ihr Kichern noch Minuten später durch mein Trommelfell echoen. Ich bin mir sicher, daß ich ihre Bemerkung nach dem Orgelvorspiel richtig vernommen habe: „Der kann überhaupt nicht Orgel spielen.“ Ich weiß, daß ich unter anderen Umständen besser gespielt hätte. Die von Schlötzels haben selbst ihrer veralteten elektronischen Orgel ihren Geist eingehaucht: Das obere Manual gibt außer einem leisen Seufzer keine Töne mehr von sich, das untere fängt hin und wieder mitten im Stück an zu schweigen. Die Hälfte des Fußpedals klemmt, und der Rest leidet an verstaubten Kontakten.
Ich möchte mich einrollen wie eine Katze, wenn ich hier auf dem Präsentierteller neben dem Altar sitze. Die einzigen beiden Heizstrahler sind auf den Pastor und die Gemeinde gerichtet, aber der Heizkörper neben der Orgel hat genauso viel Hitze wie das Innere einer Tiefkühltruhe. Das ist alles Teil der von Schlötzelschen Strategie. Vor Beginn des Gottesdiensts wünschen sie dem Pastor den schönsten aller Morgen und ignorieren mich als wäre ich nur ein müder Luftzug. Vielleicht schneiden sie mich wegen meiner Herkunft. Ich möchte heftigst bestreiten, daß mein Vater als Maurer einen unehrbaren Beruf ausüben würde! Vielleicht bin ich selber der Grund. Ich habe nichts und bin in ihren Ohren nicht fähig, Orgel zu spielen. Meine Bewerbungen werden ständig zurückgeschickt. Längst habe ich aufgehört, es als Demütigung aufzufassen, daß ein Großteil meiner Geschlechtsgenossen mit einem geringschätzenden Grinsen auf mich herabschaut. „Guck mal, diese untersetzte Kugel!“ hörte ich letzte Woche eine Frau auf der Straße zu ihrer Begleiterin sagen. Mit Vergnügen würde Adele der untersetzten Kugel einen Fußtritt verpassen und ihren Herrn Vater mit ihrem Spiel verzücken. In der freien Wirtschaft nennt man das Mobbing! Aber ich bin fest entschlossen, für meinen Platz an der Orgel zu kämpfen!
„ – Und der Frieden Gottes, welcher ist höher als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen. Liebe Gemeide, wir singen jetzt das Lied 375, die Verse eins bis vier.“
Der Pastor bombardiert mich mit auffordernden Blicken. Ich habe schon viele Choräle im Laufe meiner Organistentätigkeit gespielt, doch die Nummer 375 ist mir fremd. Jeden Freitag schickt mir seine Sekretärin die Choräle per E-Mail, schwarz auf weiß, ich habe sie wider aller Gewohnheit dieses Mal sogar ausgedruckt. Trotzdem fehlt mir die 375! Die Sekretärin muß sich geirrt haben; Irren ist menschlich, aber jetzt bin ich hier. Unvorbereitet ausgeliefert. Stünde die Zahl auch nur dünn und kaum leserlich auf meiner Übersicht, hätte ich keine Mühe gescheut, den Choral einzuüben. Jetzt ist der Moment gekommen. Adele darf endlich offen ihren Triumph über Thorsten Hähnlein feiern! Schwelgen wird sie in ihrem standesgemäßen Sieg und mich mit schrägen Glotzanfällen bespucken! Nein, ich lasse mich nicht unterkriegen. Choräle sind nicht die höchste Hürde des Organisten. Manchmal spiele ich sie fehlerlos vom Blatt weg, auch wenn sie mir vorher fremd gewesen sind. Dieses Können wird mich retten. Ich schlage das Choralbuch auf und lasse mir meine Unwissenheit nicht anmerken. Wenn die Leute sich auf ihr schiefes Mitsingen konzentrieren, achten sie gar nicht auf meine Fehler.
„Herr Hähnlein, würden Sie jetzt bitte anfangen?“ muß mich der Pastor ermahnen. Meine Überlegungen haben viel zu viel Zeit gefressen. Jetzt muß ich blättern und kann die Nummer nicht finden. Der Choral 375 existiert überhaupt nicht, zumindest nicht in meinem Exemplar des Choralbuches. Das ist ein von Schlötzelsches Komplott! All die Wochen, Monate und Jahre haben sie sich sorgsam auf ihren Endsieg vorbereitet. Ich hätte meine Noten nicht unachtsam in der Kirche liegen lassen dürfen. Adele hat den Schlüssel und damit freien Zugang zu meinem Choralbuch. Allerdings sehe ich nirgends Reißspuren. Das wäre auch zu einfach. Ich befürchte, dieses Exemplar haben die von Schlötzels individuell für mich anfertigen lassen!
Nein, ich werde nicht aufgeben. Der Satz zu Lied 374 ist immerhin abgedruckt. An dem werde ich mich orientieren, um diese unerträgliche Stille zu überbrücken. Wäre der Choral bloß nicht mit so vielen komplizierten Läufen gespickt! Die meistere ich niemals aus dem Stegreif! Das braucht Übung für einen mittelmäßigen Organisten wie mich. Erst in einer Woche wäre ich für ein öffentliches Vorspielen bereit! Nein, ich spiele trotz aller von Schlötzelschen Steine auf den Tasten. Die Gemeinde fixiert mich ratlos, beinahe mitleidig, und Adele singt in den höchsten Tönen. Wie penetrant sie die Rs beim Singen rollt! Bei jedem Gemeindefest prahlt sie mit ihrer Gesangsausbildung. Ich kann nichts Schönes im Klang ihrer Stimme entdecken. Sie hat die Stimme eines Aasgeiers. Ihre Stimme und mein Spiel sind weit davon entfernt, im Einklang zu verschmelzen. Adele kennt die wahre Melodie von Lied 375. Mit ihrem Gesang verkündet sie lauthals meine Niederlage. Ihr Silberblick färbt sich golden. „Thorsten, warum läßt du nicht mich an die Orgel?“ ruft sie euphorisch von ihrem Thron.
„Wer ist Thorsten?“ antwortet der Pastor. „Und was machst du überhaupt da oben? Wir brauchen dich hier unten an der Orgel, Adele!“
„Das muß ein Irrtum sein!“ kämpfe ich für mein Recht. „Ich wußte nichts von Choral 375, ich kann Ihnen meine Übersicht zeigen! Sehen Sie sich doch mein Choralbuch an. Es gibt hier kein Lied 375!“
Adele stolziert mit der Kopfhaltung einer Königin die Treppe zur Empore hinab. „Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“ schreie ich sie an.
Sie steigt auf den Platz steigt, den ich immer noch hartnäckig verteidige. Ihr plumpes Gesäß rutscht durch meine Oberschenkel, während ihr Hinterkopf durch mein Gesicht stößt wie durch eine Nebelmauer.

"Ein Organist" ist angelehnt an den Stil einer meiner Lieblingsautoren: Franz Kafka. Aber überzeugt euch besser selbst... Ich bin übrigens auch selbst Kirchenorganistin. Abgesehen von der kalten Kirche und den Tasten, die mir wie Eisblöcke erscheinen, ist diese Geschichte allerdings pure Fiktion.