Leumond
Oktober 2004

Einsturzgefahr


Christel Helzle-Götting



„Ruine“, das Wort ging Susanne nicht mehr aus dem Kopf, seit Helmut vor gut einer Stunde wortlos von seinem PC aufgestanden und ins Bett gegangen war. Mehr war nicht mehr übrig von ihrer Beziehung: nur eine Ruine.
Wie in Trance gab sie das Wort in die Suchmaschine ein und klickte auf Bildsuche. Dutzende von Bildern, die mehr oder weniger berühmte Ruinen zeigten, wurden gefunden. Sie hätte nicht sagen können, wodurch sich das Bild, das sie auswählte, von den anderen unterschied. Es war eine mittelmäßige Amateuraufnahme der spärlichen Überreste einer Burg, irgendwo in einer Berglandschaft. Doch irgendetwas daran faszinierte sie.
Der Link führte auf die Homepage einer kleinen Pension im Erzgebirge. Die Ruine der Burg Eulenhardt war eine der wenigen Sehenswürdigkeiten in der Umgebung. Ohne weiter darüber nachzudenken, hatte Susanne schon zwei Übernachtungen mit Frühstück im Einzelzimmer für das kommende Wochenende gebucht.

Helmut gegenüber verlor sie kein Wort darüber. Er hätte es ohnehin nicht verstanden. Am Freitag morgen, nachdem er das Haus verlassen hatte, packte sie ein paar Sachen und hinterlies ihm eine Nachricht: „Bin übers Wochenende nicht zuhause“.
Gleich nach der Arbeit fuhr sie los. Obwohl der kleine Ort nicht besonders gut ausgeschildert war, fand Susanne ihn so problemlos, als würde ihr Auto an einer Schnur dorthin gezogen.

Die freundliche Pensionswirtin packte Susanne gerne ein Lunchpaket und borgte ihr eine Wanderkarte, als sie Samstag nach dem Frühstück zur Burgruine aufbrach.
Es war ein wunderschöner Herbsttag, die Bäume trugen buntgefärbtes Laub, die Sonne schien und es war gerade so warm, dass das Wandern Spaß machte.
Susanne fühlte sich so frei wie lange nicht. Obwohl ihr bewusst war, was Helmut jetzt denken würde, war es ihr in diesem Moment vollkommen egal.

Es war noch nicht Mittag, als genau die Ansicht der Ruine vor ihr auftauchte, die sie im Internet gesehen hatte. Sie war noch weit mehr fasziniert, als sie es von dem Foto gewesen war, obwohl sie immer noch nicht erklären könnte, was das faszinierende war. Mit Helmut zusammen, hatte sie in den letzten Jahren, nahezu sämtliche berühmten Ausgrabungsstätten und Ruinen der Erde gesehen. Dies hier war eine weder architektonisch, noch geschichtlich besondere Burg gewesen, und ihre Überreste wurden größtenteils vom Wald überwuchert.
Die Schilder, die vor Einsturzgefahr warnten, konnten Susanne nicht abhalten, ihr Lunchpaket auf der fast noch intakten Mauer, mit Blick auf das Tal, aus dem sie kam, zu verspeisen. Danach machte sie, die sonst immer die Vorsicht selbst war, sich daran, die Ruine weiter zu erforschen. Bald schon fand sie den halb verschütteten Eingang zu einem Kellergewölbe und kletterte ohne zu zögern hinein.
Ihre kleine Taschenlampe erleuchtete das Gewölbe nur unzureichend, scheuchte nur einige Fledermäuse auf, was sie erschreckt zusammenfahren ließ. Doch viel mehr erschreckte sie ein plötzliches Gepolter vom Eingang her. Geschockt rannte sie stolpernd dorthin zurück, nur um zu entdecken, das der Eingang nun vollends verschüttet war.
Was nun? Sollte sie einfach warten? Würde man sie suchen? Die Pensionswirtin würde sie nicht vor dem Abend, vielleicht auch erst beim Frühstück vermissen. Sie musste alleine hier heraus kommen.
Bevor ihre Angst sie überwältigte, hörte sie plötzlich hinter sich ein Flattern. Sie dachte zunächst, es wäre eine weitere Fledermaus, doch dann sah sie im Licht der Taschenlampe eine kleine Eule. Wie kam eine Eule hier herein? Nun ja, es war auch egal, sicherlich würde sie einen Ausweg kennen. Susanne hoffte nur, dass dieser Ausweg auch für sie groß genug sein würde. Tatsächlich machte die Eule sich auf den Weg in die Tiefen des Gewölbes. Susanne bemühte sich ihr zu folgen. Bald schon sah sie Tageslicht vor sich: ein Teil der Mauer war eingestürzt, der Riss war gerade groß genug, um sich durchzuzwängen.
Als Susanne sich aufatmend draußen ins Gras fallen ließ, blinzelnd im Sonnenlicht und erschöpft von dem Schock, war die Eule verschwunden, als wäre sie nie da gewesen. Langsam erholte sie sich von dem Schreck und machte sich auf den Weg, zurück ins Tal.

Susanne öffnete am nächsten Morgen mit dem Gedanken, zur Ruine zurückzukehren, die Augen. Doch als sie aus dem Fenster schaute, stellte sie fest, das daran gar nicht zu denken war: es regnete in Strömen. Sturmgepeitscht wankten die Bäume des Waldes. Was sollte sie nun mit dem Tag anfangen? Sie beschloss, mehr über die Burg Eulenhardt herauszufinden. Beim Frühstück fragte sie die Wirtin danach.
„Der Heimatverein hat alles darüber gesammelt. Wenn sie möchten, ruf ich gleich mal Frau Borgward an, die verwaltet die Sammlung und lässt sie sicher gerne alles anschauen.“, erwiderte die Wirtin.
Gleich nach dem Frühstück machte sich Susanne, die kaum den Schirm festhalten konnte, zum Haus der Vorsitzenden des Heimatvereins auf. Frau Borgward hatte keine Zeit, Susanne weiterzuhelfen, ließ sie aber gerne die gesammelten Informationen über das Geschlecht derer von Eulenhardt und die Burg lesen.
Die Burg hatte Jahrhunderte lang das Tal überragt, und das Geschlecht derer von Eulenhardt hatte wechselnden Herrschern in unterschiedlichster, beratender Funktion gedient und in hohem Ansehen gestanden, doch diese Zeiten interessierten Susanne nicht, sie war am Niedergang interessiert. Dieser konnte eindeutig an einem Namen festgemacht werden: Herwig von Eulenhardt, der nach dem Tod seines kinderlos verstorbenen Onkels, die Herrschaft an sich riss. Er erwies sich schon bald als Tyrann, der freie Bauern und Leibeigene gleichermaßen auspresste. Mehrere Ehen waren kinderlos geblieben und in ungewöhnlichen Todesfällen der Ehefrauen geendet, bevor Erdmute von Eulenhardt ihm endlich eine Tochter gebar. Gerüchten zufolge war Erdmute jedoch eher Herwigs Bruder Rudolf zugetan, einem Träumer und Dichter. Die Leidenschaften der jungen Eulalia, die sich zeigten, kaum das sie schreiben und lesen konnte, ließen die Gerüchte, sie sei ein Kuckucksei, verstärkt aufleben. Eulalia schrieb Gedichte, man sah sie immer wieder träumend auf der Burgmauer stehen und ins Tal blicken. Sie starb sehr jung, angeblich an gebrochenem Herzen nach dem Tod ihrer Mutter, doch die Gerüchte, dass sie beide durch die Hand des tyrannischen Vaters gestorben seien, hielten sich hartnäckig. Als, nur wenige Jahre später, der benachbarte Herzog einen Feldzug gegen die Burg Eulenhardt startete, ließ die Unterstützung der Untertanen stark zu wünschen übrig. Jeder freie Bauer musste dringend pflügen, sähen oder ernten. So wurde die Burg Eulenhardt fast ohne Widerstand eingenommen und geschleift.
Die Aufzeichnungen endeten mit einem Gedicht, das der jungen Eulalia von Eulenhardt zugeschrieben wurde:
Wanderer,
glaubst du dich in finsterer Nacht,
so sieh in dich,
hier wirst du ihn finden,
den Geist der Freiheit.
Er wird dich leiten,
hinaus ins Licht.

Während Susanne noch Eulalias Gedicht las, hörte sie draußen auf dem Flur laute Stimmen. Schließlich kam Frau Borgward herein und sagte aufgeregt: „Stellen sie sich vor, was sie für ein Glück hatten, die Ruine gestern noch gesehen zu haben: durch das Unwetter ist die Mauer heute Nacht eingestürzt und hat das Kellergewölbe ebenfalls zum Einsturz gebracht. Ich muss jetzt gleich hinüber fahren, aber bleiben sie ruhig hier.“
Und schon war Frau Borgward wieder hinausgestürzt, und Susanne blieb allein. Allein mit ihren Gedanken an die Geschichte, die sie gelesen hatte, an das, was sie gestern erlebt hatte, und an ihr Leben. Plötzlich kam ihr das Erlebte wie ein Gleichnis vor: sie wollte nicht warten, bis die Ruine ihrer Beziehung über ihr zusammenstürzen würde. Sie würde diesem Geist, der sie hierher geführt hatte, folgen und den weiteren Weg in die Freiheit gehen.
Noch ehe sie sich auf den Heimweg machte, hatte sie eine SMS an Helmut geschrieben: „Es ist vorbei und du weißt es. Ich komme nachher und hole meine Sachen ab.“

Ich bin Ingenieurin und Mutter von drei Kindern und schreibe gern die Geschichten auf, die mir zufliegen.