Leumond
Oktober 2004

Engel der Heimat


Annika Senger



„Das war die Musi, tralalalala! Das war die Musi tralalalala!“ stimmt der Moderator das traditionelle Abschiedslied seiner Show an. Alle Interpreten des Abends haben sich noch einmal vor der Kamera versammelt und tun so, als würden sie hinter der Fassade des Voll-Playbacks Töne aus ihren Kehlen hervorlocken. Benjamin versteckt sich hinter dem breiten Kreuz einer Sängerin und starrt lustlos und müde zu Boden. Manchmal wünscht er sich einen Tarnmantel, in den er sich nur einwickeln müßte, um heimlich aus der Halle zu schleichen. Schon wieder träumt er, Harry Potter zu sein und nicht Benjamin, der “kleine Engel der Heimat“, wie seine Plattenfirma mit ihm wirbt. „Volksmusik-Heini“ nennen ihn die anderen Kinder in seiner Klasse. Wenn er vor der Kamera den Engel der Heimat spielt, hört er sie über ihn lachen und Spottwitze reißen. Immer lauter, bis er es nicht mehr ertragen kann, so daß er sich am liebsten die Ohren zuhalten möchte. Als er vor einigen Tagen vor seinen Klassenkameraden im Musikunterricht vorsingen sollte, hat er sich vorgestellt, stumm zu sein. „Was ist los, Benjamin? Du hast doch so eine schöne Stimme“, redete seine Lehrerin auf ihn ein.
„Ich kann nicht singen“, antwortete Benjamin weinerlich.
„Ha! Jetzt macht sich der Volksmusik-Heini in die Hosen!“ attackierte ihn ein Junge aus der hinteren Reihe. „Meine Schwester sagt, da singt im Fernsehen immer ein anderer Blödmann. Aber die Mutter von dieser Heulmemme da fährt jetzt ‘nen Porsche und der Vater so ‘n dicken Benz!“
„Dennis, das reicht!“ deckte die Lehrerin Benjamin den Rücken. „Wenn du hier deine Mitschüler beleidigen kannst, dann kannst du auch zu Hause einen Aufsatz zum Thema Toleranz schreiben. Und vorher möchte ich, daß du dich auf der Stelle bei Benjamin entschuldigst!“
Dennis‘ blaue Augen glühten eiskalt: „Ich soll mich bei dem entschuldigen, wo mich der Doofi mit seiner uncoolen Oma-und-Opa-Musik nervt? Der kennt noch nicht mal Eminem!“
Die anderen Kinder wissen nicht, daß die Wand über Benjamins Bett so dicht an dicht mit Eminem-Postern behängt ist, daß das Weiß der Tapete darunter kaum noch sichtbar ist. Wie sollen sie auch ahnen, daß er jedes Lied von Eminem auswendig kennt? Es hat ihn schon lange kein Kind mehr besucht. Nur sein Gesangslehrer hält ihn jeden Tag zwei Stunden vor dem Klavier gefangen. „Du kleiner Engel!“ hat ihn vor der Show die Präsidentin seines Fan-Clubs gelobt. „du hast ja so eine glockenreine Stimme!“
Sein Vater ergriff daraufhin für Benjamin das Wort: „Ja, der Fleiß meines Sohnes trägt Früchte. Seine Grenzen hat er aber noch lange nicht erreicht.“
Bis vor einem Jahr waren die Gesangstunden auf einmal die Woche beschränkt, bis zu dem Tag, als Benjamin beschlossen hatte, niemals wieder zu singen. „Du undankbares Kind!“ hatte seine Mutter ihn beschimpft. „Dein Vater und ich haben alles möglich gemacht, damit du berühmt wirst! Und jetzt willst du das nicht würdigen? Ich in deinem Alter, ich hätte Freudensprünge gemacht, wenn ich deinen Erfolg gehabt hätte! Und du trittst das, was wir dir aufgebaut haben, mit Füßen! Das schöne Geld, das du verdienst! Eine Schande, wie du dich benimmst! Und eins sage ich dir: Wenn du nicht sofort wieder anfängst zu singen, schicken wir dich in ein Internat! Dann wollen wir dich hier nie wieder sehen!“
„Mama“, stammelte Benjamin den Tränen nahe, „ich will ja wieder singen. Schickt mich bloß nicht weg!“
„Schon besser Freundchen. Aber fang jetzt bloß nicht an zu flennen. Da kommt gleich ein Reporter für eine Home-Story. Was soll der denn von dir denken?“
Mit der Zeit hat Benjamin gelernt, automatisch zu lächeln. Als würde er eine Computerdatei im Gehirn anklicken, sobald Kamerarohre ihn im Visier haben. Hinter dem Rücken der fülligen Sängerin fühlt er sich geschützt wie eine Maus in ihrem Loch. In der ganzen Halle wimmelt es von gefräßigen Katzen: an den Tischen mit den blauweiß karierten Decken, wo das Publikum mit jedem Auftakt eines schwungvollen Liedes auf Kommando klatscht. Selbst am Schluß der Show tun den Zuschauern die Handflächen noch nicht weh. „Das war die Musi, tralalalala! Das war die Musi tralalalala! Die Musi ist vorbei, mein Schatz, wir müssen schlafen gehn.“
Das Abschiedslied endet, und Benjamin will sich abwenden. Er spürt den Drang in sich, nur noch schnell Richtung Ausgang wetzen zu wollen. „Ja, liebes Publikum“, erhebt der Moderator unerwartet seine polternde Stimme, „gerade erreicht mich eine Nachricht von der Aufnahmeleitung, die Sie bestimmt ganz besonders freuen wird. Ich finde sie jedenfalls ganz, ganz wunderbar. Es sind im Laufe der Show unzählige Anrufe von Ihnen da draußen an den Bildschirmen bei uns eingegangen, was für mich nur beweist, wie tief Sie im Herzen berührt sein müssen. Sie alle wollen noch einmal das wunderschöne Lied von Benjamin, unserem kleinen Engel der Heimat hören. Zehn Jahre ist er erst alt und schon ein ganz, ganz großes Stimmwunder. Benjamin, wir alle hier im Saal und zu Hause an den Fernsehgeräten sind glücklich, daß es dich gibt. Komm doch bitte nach vorne, und sing noch einmal für uns „Kein Land ist schöner als meine Heimat“.“
„Laßt mich in Ruhe! - Ich will nach Hause! - Ich will hier weg! - Lieber Gott, mach‘ das ich unsichtbar werde!“ schreien Stimmen in Benjamins Kopf durcheinander. Mit hängenden Schultern trottet er hinter dem Schutzwall seiner älteren Kollegen hervor. Seine großen braunen Augen weinen, ohne eine einzige Träne zu vergießen. Er hat keinen Zugriff mehr auf das Programm, das in Gegenwart der Kamera ein Lächeln auf seine Lippen modelliert. Benjamin nimmt das Mikro entgegen wie eine Giftschlange, die ihn zu beißen droht, wenn er nicht kooperiert. Kalt brennt es sich in seine Hand. Die getragene Streicherintonation von „Kein Land ist schöner als meine Heimat“ schneidet ihn mit ihren blumigen Kanten. „Ich hasse dieses Lied!“ denkt er. „Irgendwann fliege ich ganz weit weg und singe nie wieder.“ Seine Lippen fangen an, sich mechanisch zum Playback zu bewegen. Benjamin weiß nicht mehr, wie oft seine Eltern ihn im Laufe der letzten zwei Jahre zu Fernsehauftritten gefahren haben. Er will nur, daß sie so schnell wie möglich zu Ende gehen. Seit einiger Zeit ist er so sehr an die Playbacks der Lieder auf seinen CDs gewöhnt, daß er seine Lippen nicht mehr zu steuern braucht. Manchmal stellt er sich vor, Fäden an Händen, Füßen und über der Oberlippe zu haben. Ein böser, unsichtbarer Zauberer zieht daran, so daß es aussieht, als würde er singen: „Kein Land ist schöner als meine Heimat, dort wo meine Wiege stand. Da sind die Menschen so gut und freundlich. Ich will ‘s nie lassen – mein Heimatland.“
Benjamin versinkt in der Linse der Kamera. Ihm ist, als würden weiße Dampfschwaden daraus hervor strömen und ihn warm umhüllen. Das Schnaufen einer Lokomotive übertönt allmählich die Musik, und der kleine Engel der Heimat muß plötzlich von Herzen lächeln. Der Hogwarts-Express quetscht sich schwerfällig aus der Kamera. Mit einem Seufzer bremst der Zug vor Benjamins Füßen ab. „Benjamin, komm mit!“ ruft Harry Potter ihm zu. Der Engel der Heimat hebt seine freie Hand und beginnt sehnsüchtig zu winken. Das Publikum ist so verzückt, daß es klatschend das Bild vor Benjamins Augen zertrümmert.

"Engel der Heimat" habe ich geschrieben, nachdem ich an einem Samstagabend nichts anderes zu tun hatte, als mich mit meinem Freund über eine allseits bekannte Volksmusik-Show in der ARD lustig zu machen. Zu lachen hatte ich einiges, bis am Ende der Show dieser traurige, ca. zehn Jahre alte Junge noch einmal vor die Kamera gerufen wurde, weil das Publikum vor den Bildschirmen von seinem Auftritt so überschwenglich begeistert gewesen war. Mit müden Augen und etwas widerwillig trottete er aus der Masse an Interpreten hervor und bewegte noch einmal unmotiviert die Lippen zu dem Playback "seines" Liedes. In dem Moment war ich nicht mehr fähig zu lachen...