Leumond
Oktober 2004

Sarcophilus harrisii


Leif Skaerbaek



Zum ersten Mal in diesem Jahr schafft es die noch immer viel zu tief stehende Sonne, durch ein großes Loch in der Wolkendecke, den Frühnebel restlos wegzuschmelzen. Der erste angenehm milde Tag nach diesem herzlosen, langen Winter.
Das grelle, stechende Weiß wird von Farben abgelöst, die neues Leben erahnen lassen. Alles kann gut werden. Der Kreislauf beginnt von Neuem. Nach dem Tod kommt die Wiedergeburt. Alles wächst. Alles fließt. Alles wird gut.
Und doch herrscht eine seltsame Stille, hier im Tiergehege. Es ist Wochenende, aber es sind kaum Leute unterwegs. Ein paar Vögel können sich ihr zaghaftes Gezwitscher nicht verkneifen. Ansonsten: Ruhe.
Ich hocke hier neben einem Baum und genieße eben diese Ruhe. Ein Mann und eine Frau erreichen eines der Gehege. Ich beobachte sie. Sie haben sich am Eingang Futter gekauft.
„Wäre doch gelacht, wenn die mir nicht aus der Hand fressen.” Herausfordernd schaut der Mann, wohl kaum älter als 25, die Haare streichholzlang, blondiert, zu seiner Begleiterin. „So wie du bei mir.” Die Frau, wahrscheinlich gleichen Alters, die dunklen Haare durch den Hinterausgang eines Base-Caps fallen lassend, scheint von diesem Spruch nicht allzu begeistert zu sein und schlägt ihrem Mann die Futtertüte aus der Hand. Die Körnermischung verteilt sich auf etwa 10 Quadratmeter vor dem Gehege.
Fragend schaut er sie an: „Jetzt können wir die Tiere nicht mehr füttern.”
„Ach komm. Tue doch nicht so. Wie wäre es mit einer Runde Mitleid ?”.
„Hast ja Recht. Wer was will, der muss halt herkommen. Schau doch mal. Klasse: Säugetiere. Ordnung: Beuteltiere. Familie: Raubbeutler. Gattung: Beutelteufel.
Grinsen. „Sind wir hier etwa in der Schule, oder wie ? Wo ist denn das Beutelteufelchen ? Ta-smanischer Teuf-el. Wie kann man nur so heißen ? Ich dachte in Tasmanien gibt es nur Vampire.”
Jetzt muss ER sich ein Lachen verkneifen, fängt sich aber schnell. Es hat den Anschein, als würde er sich vor ihr verneigen. „Die Vampire kommen aus Transsilvanien, Schatz. Tasmanien, das ist ein Land in Afrika.”
Da hocke ich hier und lehne mich an die kräftige Eiche an und würde den beiden am liebsten eine Australien-Karte vor die Füße werfen, oder am besten noch um die Ohren hauen. Aber ich verhalte mich ruhig. Schließlich will man ja die wenigen Besucher nicht auch noch verschrecken. Außerdem bin ich gespannt, wie es weiter geht.
„Das ist jetzt aber nicht schön, dass du wieder mal alles besser weißt.” Sie schaut den Blonden von unten an und hat dabei einen Augenaufschlag, der mir ein krampfartiges Würgen und ihm weiche Knie verursacht.
„Tut mir leid, Maus. Ich habe mich geirrt. Lebensraum: Eukalyptuswälder.
„Echt. Hab gar nicht gewusst, dass es in Rumänien Eukalyptuswälder gibt.”
Wieder schaut der Blonde das Base-Cap fragend an, sagt aber diesmal nichts dazu, sondern studiert weiter eifrig die Beschreibung.
Körperlänge: 70 Zentimeter. Gewicht: 8-12 kg. Schwanzlänge: bis 27 Zentimeter. Was für ein komisches Ding ist das denn ? Kein Wunder, dass die den nicht mehr in der freien Wildbahn rumlaufen lassen.”
„Aber die Schwanzlänge ist schon interessant, Liebling.”
„Darüber kann ich nicht lachen, ganz ehrlich.”
„Noch ne Tüte Mitleid. Vielleicht kann dir der Beutelteufel ja noch etwas von seinem abgeben. Vom Mitleid meine ich.”
Der Blondgesträhnte kann seine aufkommende Anspannung nicht mehr verstecken. „Dazu müsste dieses blöde Mistvieh erst mal da sein.”
Jetzt „liest” SIE weiter. „Paa-rung-szeit d-er Beute-lteufel fäl-lt in die Zeit von Mä-rz bis Ma-i. Da wissen wir doch, wo das Vieh gerade ist. Statt hier stramm zu stehen und sich uns zu zeigen, wie es sich gehört. Schließlich haben wir viel Geld bezahlt.”
Scheinbar dauert ihm der Lesevortrag der Baseballkappe zu lange. „Der Beutelteufel ist ein fleischfressendes Beuteltier. Das klingt schon etwas bedrohlich. Stell dir mal vor, ...”
„Ach Quatsch, der ist doch nur 70 Zentimeter groß. Du glaubst doch nicht im Ernst ...”
„Hast ja Recht. Der Beutelteufel ernährt sich von Insekten, Wirbellosen, Aas, Vögeln und kleinen Säugetieren. Seinen Namen verdankt er seiner Wildheit, dem schwarzen Fell und den roten Ohren. Die roten Ohren bekommt er, wenn er sich aufregt.
Sie wirft den dunklen Pferdeschwanz zur Seite. „Was für ein hässliches Ding mag das sein. Der könnte sich endlich mal zeigen. Schon aus Dankbarkeit, dafür dass er hier sein darf und täglich genug zu essen bekommt, für dass wir schließlich mitbezahlen.”
Sie grinst. Er grinst zurück. In seinen Augen ein seltsames Blitzen. „Die Tiere in den Parks sind wie die Ausländer. Sie kommen zu uns, bringen nichts mit, nehmen uns den Raum zum Leben, die Luft zum Atmen, und wenn man sie mal braucht, dann sind sie nicht da.”
Sie schlägt mit der flachen Hand an das Gitternetz. „Genau. Genau. Die Vord-erfüße tragen fün-f, die Hint-erfüße nur vier mit scharf-en Kral-len verse-hene Ze-hen. Was für eine Missgeburt. Die Grun-dfär-bung ist sch-warz. Das war ja klar. Das war ja so was von klar. Also doch aus Afrika. Die wollen uns mit Absicht verwirren.”
Ihre Gesichter leuchten mittlerweile so rot wie die Ohren des Tasmanischen Teufels. Sie scheinen sich ziemlich aufzuregen. Jetzt bringe ich auch den Mut auf, etwas näher heranzugehen. Ganz langsam bewege ich mich auf sie zu. Sie bemerken mich nicht. Ich mache mich ganz klein.
Der Blondgesträhnte liest nochmals vor: „Der Beutelteufel kommt heute nur noch auf Tasmanien vor. Leider vergreift er sich in der Nähe bewohnter Gebiete manchmal auch an Haustieren und wird deshalb stark verfolgt. Tasmanien ist übrigens nur der letzte Rest seines früher großen Verbreitungsgebietes, das sich vor ungefähr 3000 Jahren über einen großen Teil Australiens erstreckte; im Staate Victoria kam er noch bis vor etwa 500 Jahren vor.
„So etwas hässliches und faules kann man eben nicht am Leben lassen. Aber seit wann liegt Australien in Rumänien. Das hat wohl irgend so ein ABM-Heini geschrieben. Hätten mal lieber dir den Job geben sollen, Schatz.”

Ich stehe jetzt hinter den beiden. Fast in Reichweite. Ich kann jedes Wort hören, jede Bewegung und jedes Atmen spüren. Ich kann ihre Herzen schlagen hören. Sie bemerken mich nicht.

Sie schaut ihren Begleiter an: „Wo ist denn nun dieses Tier, über das wir ja jetzt alles wissen. Der müsste doch längst zu sehen sein. Irgenwie ist das alles hier wie ausgestorben.”
„Ja, fast schon ein wenig unheimlich. Es sind auch gar keine Besucher zu sehen.”
Sie rückt ganz nah an ihn heran. „Das ist, ich, weiß nicht, ich, fühle mich irgendwie, ich weiß auch nicht. So als würde mich jemand die ganze Zeit beobachten.”

Ich hoffe, dass sie sich jetzt nicht umdreht. Ich wüsste nicht, wie ich ihr erklären sollte, aus welchem Grund ich so dicht hinter ihr stehe. Die beiden fassen sich an den Händen. Wie Hänsel und Gretel, die sich verlaufen haben und nicht weiter wissen. Die vor dem Haus stehen und nicht wissen, was darin vor sich geht.

Jetzt sind auch keine Vögel mehr zu hören. Kein Knacken von Ästen. Kein Rauschen vom liegen gebliebenen Herbstlaub im Wind. Nur das Atmen und Pulsieren der beiden, die angespannt vor dem Gehege stehen und nicht wirklich wissen, worauf sie warten. Sie zupft ihn am Ärmel. „Lass uns abhauen. Bitte. Lass uns gehen.”

Der Tasmanische Teufel ist nicht zu sehen. Er zeigt sich nicht. Nein. Nein. Nein. Er denkt gar nicht dran.


Tatsächlich bin ich etwas größer als 70 Zentimeter. Vielleicht 1,40. Ich kenne mich damit wirklich nicht aus. Ich spüre die Hitze in meinen Ohren. Aber das sind Instinkte. Ich bestehe nur aus Instinkten. Deshalb kann ich die beiden weder hassen noch mögen. Ich habe nicht wirklich verstanden, was sie geredet haben. Ich weiß nur: Sie wollten mich sehen, sie haben dafür bezahlt, mich zu betrachten. Wie ich aus diesem Gefängnis heraus gekommen bin, weiß ich selbst nicht mehr so genau.
Jetzt hocke ich hier. Vor mir der Blondgeschopfte und das Base-Cap-Mädchen. Ich habe Hunger. Ich rieche Angst. Das macht mir Appetit. Ich werde gleich speisen. Es gibt nur eine Frage, die mich wirklich quält:

Das Männchen oder das Weibchen zuerst?

Als ich mit meiner Frau und meinem Sohnemann im Wildgehege Moritzburg vor einem der zahlreichen Käfige stand, kam mir die Idee, den Spieß endlich mal rumzudrehen. So entstand die Geschichte vom kleinen, posierlichen Beutelteufel.


Bin im echten Leben Diplom-Pädagoge, 34 jahre alt und habe eine kleine Familie. Träume von einem Leben als Kolumnist.