Leumond
Oktober 2004

Der Tischlergeselle und der Obdachlose


Thilo Bachmann



Da ich eigentlich sehr wenig von dem Leben eines Obdachlosen weiß, schlüpfe ich in die Rolle eines Tischlergesellen. Schon ein paar mal habe ich einem Augustinverkäufer seine Zeitung abgekauft. Es interessierte mich einfach, was sie beinhaltete. Ich staunte immer mehr, welche Tiefen und Abgründe taten sich hier auf. Missstände, von denen ich keine Ahnung hatte... Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich einmal kein Dach über dem Kopf besäße oder Schwierigkeiten mit den Behörden bekäme. Bei mir verlief immer alles in geordneten Bahnen. Ich musste mir mit großen Fleiß mein Brot verdienen, denn mein Tischlerberuf verlangte ein Höchstmaß an Leistung. Daß es in der Jetztzeit in dem angeblich sozialen Wien so viele Menschen gäbe, die sich keine Wohnung leisten können, weil es ihnen am Geld fehle ist für Wien kein Aushängeschild, geschweige denn, was hier mit den psychisch Kranken geschieht, die jedes Jahr sterben, weil der Staat nicht imstande ist, psychisch Kranke „Psycherln“ und Obdachlose als gleichwertig mit den sogenannten Gesunden anzusehen.
Irgendwas stimmte da für mich nicht. Die Boulevardzeitung Augustin kaufte ich stets bei dem selben freundlichen, fast immer lächelnden, Verkäufer, der seine Zeitung auch anpries.
Ich nahm mir vor, diesem Augustinverkäufer ein paar Fragen zu stellen, die mir nicht ganz klar waren. Er sah nicht heruntergekommen aus, hatte gute Manieren, ich konnte nicht begreifen, dass so ein Mensch keine Bleibe hat.-
Also betrat ich an einem Samstag die Halle irgend einer der U-Bahnstationen, wo dieser Verkäufer meist stand. Er sah mich wie immer freundlich forschend an, ich kaufte ihm eine Zeitung ab. Gerade wollte ich ihn ansprechen, aber er kam mir zuvor und fragte mich: „Ich würde gerne wissen, warum Sie mir meine Zeitung abkaufen. Sie sind der Erste, den ich danach frage. Ist es, weil Sie Mitleid mit mir haben oder aus Neugierde, was es darin zu lesen gibt ?“
Ich war etwas verwirrt, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich antwortete aber gerade heraus: „Nein, aus Mitleid bestimmt nicht, mich interessiert der Inhalt der Zeitung“.
Er erwiderte mit Achtung: „Es freut mich, das von Ihnen zu hören. Ich dachte bis vor Kurzem nicht gut über meine Käufer, denn ich glaube die meisten Leute kaufen den Augustin, weil sie Mitleid mit den Verkäufern haben. Sie blättern darin herum, lesen kaum darin und werfen die Zeitung dann weg. Aber Sie sind anders, es gibt doch an der Zeitung interessierte Käufer.“
Ich sagte gedehnt: „Sie sollten überhaupt Ihre Meinung über die Menschen überdenken, Sie waren da voreingenommen.“ Er lächelte etwas unbeholfen und meinte: „Ich gehöre nämlich zu den Verkäufern, die ziemlich genau wissen, welche Geschichten, Gedichte oder andere Missstände darinnen zu lesen sind. Denn ich lese jeden Augustin genau durch. Wer erfahren will, was in diesem Staate schief läuft braucht nur im Augustin zu lesen. Ob es mir gefällt oder nicht, ich schlafe in der Gruft.“
Ich versetzte ernst: „So, ich will gar nicht wissen, was das ist. Das, was hier schlecht gehandhabt wird, habe ich inzwischen auch verwundert festgestellt.. Was ich nicht verstehen kann, dass ein Mensch wie Sie, der wie ich sehe eine Menge Geist besitzt, gute Manieren hat, in einer solchen Lage ist und den Augustin verkaufen muß. Irgend etwas ist geschehen, dass Sie keinen Beruf ausüben und obdachlos sind. Sie müssten doch imstande sein irgendeine Arbeit zu finden, sei es Lagerarbeiter oder Gartenhelfer gleichviel.....“ Er sagte etwas traurig: „Sie haben da einen wunden Punkt angeschnitten, den ich schon glaubte überwunden zu haben. Ja, ich wundere mich selbst darüber, dass es so weit mit mir kommen musste. Ich war früher sehr wohl berufstätig, aber als junger Bursch machte ich Schulden, die ich nicht zurückzahlen konnte. Ein Dach über dem Kopf hatte ich auch, eine Altbauwohnung, ich veranstaltete Partys in meiner Wohnung, wir lärmten bis tief in die Nacht hinein, die Nachbarn riefen die Polizei, als diese erschien waren wir stockbetrunken, wir waren zu sieben Personen, grölten laut um drei Uhr nachts, mussten aufs Polizeikommissariat unsere Daten festzustellen. Da wurde ich grob, beschimpfte die Polizisten. Als mich einer von ihnen berühren wollte, gab ich ihm einen Kinnhacken und verletzte ihn an der Wange. Daraufhin wurde ich in die Zelle gesperrt und wurde wegen Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt angezeigt. Es kam zur Verhandlung und ich wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Ja, schauen Sie nicht so überrascht, es war leider so. Also drei Jahre meines Lebens hat der Staat mir gestohlen. Ich hasse ihn dafür.“
'Also das war es, er war im Gefängnis, wer hätte das gedacht', sagte ich zu mir und laut: „Nun, aber Sie könnten wieder neu anfangen und es versuchen, als Erstes wenigstens eine Wohnung zu finden Eine Arbeit bräuchten Sie allerdings auch. Eine Firma, die kein Leumundszeugnis verlangt müsste es doch geben. Wie heißen Sie ?“
Der Verkäufer erwiderte bitter: „Roland. Das wäre schon etwas, wenn mich eine Firma nehmen würde. Vom Sozialamt bekomme ich zwar etwas Geld, es ist aber zu wenig, die Miete einer Wohnung zu bezahlen. Auf Arbeitslosengeld habe ich keinen Anspruch, weil ich zu wenig gearbeitet habe. Ich werde aber trotzdem versuchen, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Zuerst brauche ich eine Bleibe.“
Ich sagte, um ihm Mut zu machen: „Sie werden bestimmt erreichen, was Sie sich vornehmen, davon bin ich überzeugt. Sie haben das Zeug dazu. Ich habe heute noch was zu erledigen. Auf Wiedersehn.“ Ich entfernte mich.
Nach ein paar Tagen, es war Freitagnachmittag, kam ich wieder an dieser Stelle vorbei; Da stand ein ganz anderer Augustinverkäufer hier, ein Neger mit schlechten Deutschkenntnissen. Ich kaufte ihm eine Zeitung ab und fragte ihn ob er den Roland kenne, aber er sah mich nur fragend an. Eine Woche später hielt ich hier nach dem Roland Ausschau, aber ich konnte ihn nirgends entdecken. Ein paar mal war ich später hier in der Nähe, aber der Roland blieb wie vom Erdboden verschluckt. Erleichtert sagte ich leise zu mir `Der Roland hat es geschafft`.

Der Tischlertext ist noch jung, ich habe ihn heuer im Frühjahr verfasst, weil ich ein paar Mal in der Augustinzeitung mit Texten veröffentlicht wurde und ich mich normalerweise mit Augustinverkäufern eher schlecht verstehe bzw. sie das Wort menschlichkeit nicht kennen. Es ist leider nur ein Fiktivtext.


Thilo schreibt außer den hier aufgeführten Geschichten gerne Kurzkrimis, Weihnachtsgeschichten, Gedichte und Essays. Zudem ist er Hobbypianist. Seine Lieblingsautoren sind: Dostojewsky und Gustav Freytag