Leumond
Juli 2004

Wolfsmond


Christel Helzle-Götting



Vom vollen Mond in ein geisterhaftes Licht getaucht stand der schwarze Turm hoch über den Wipfeln des dichten Waldes aufragend. Wäre irgendein Mensch um diese Stunde im Wald gewesen, er hätte die Silhouette einer schlanken jungen Frau auf den Zinnen des Turmes stehen sehen. Doch Menschen betraten den Wald des Nachts und vor allem bei Vollmond niemals. Sie nannten die Atmosphäre dort "unheimlich" und "beängstigend". Doch für Jarela war es ein Gefühl von Heimat. Dies war ihr kleines Stück von der Welt.
Endlich, nach hunderten von endlosen Jahren des Krieges, der ihre Völker entzweite und in dem sie und Borokus eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hatten. Jeder auf der Seite seines Volkes und den Feind bitter hassend, waren sie hier aufeinandergetroffen, allein und verlassen, beide mit Verletzungen aus vorangegangenen Kämpfen. Von dem Drang, den Anderen zu töten, hatte sie nur eins abgehalten: der eigene Wille zu überleben und das Wissen, dass dies nur mit Hilfe des Feindes möglich war. Und hier, in diesem Turm, fanden sie, was es in ihrer von Hass beherrschten Welt gar nicht geben durfte.
Gedankenverloren spielte Jarela mit ihren Haaren, bleckte ihre Zähne und leckte sich hungrig die Lippen. Der Mond war rot heute Nacht, rot wie ihre sehnsuchtsvollen Augen und wie das Blut, nach dem sie dürstete. Wo blieb er nur? Dies war doch ihre Nacht, die Blutnacht des Wolfsmondes. Da, plötzlich, ohne dass sie ihn kommen gehört hatte, ertönte ein Heulen vom Fuß des Turms. Da stand er, Borokus, dunkel im Dunkel des Waldes und nur für ihre nachtsichtigen Vampiraugen sichtbar. Ein wildes Verlangen erfüllte Jarelas Körper. Sie stieß sich vom Boden ab und schwebte wie ein lautloser Schatten abwärts zum Fuß des Turmes. Wie hatte sie sich danach gesehnt, ihn wieder zu spüren. Sein weiches Fell, seine starken Arme. Heute Nacht würden sie endlich wieder zusammen auf die Jagd gehen. Die einzigartige Jagd, die es ihres Wissens nach nie zuvor gegeben hatte: die gemeinsame Jagd von Vampir und Werwolf.
Als er ihre Hände in seine nahm, sanft trotz der scharfen Krallen, und sie seine Wärme auf ihrer kühlen Haut spürte, wurde sie von unendlicher Leidenschaft erfasst. Ihre Zähne näherten sich seinem Hals, doch ohne ihn zu verletzen, fuhr ihre Zunge über sein Fell. Seine messerscharfen Krallen strichen über ihren Rücken, ohne auch nur den Stoff ihres Oberteils aufzuritzen. Der gemeinsame Schrei hallte weit über den Wald und hätte jedem, der ihn hörte, das Blut in den Adern gefrieren lassen. Ihre Leidenschaft verstärkte ihren Hunger noch und so jagten sie davon. Trotz aller Unterschiede ergänzten sie sich so perfekt, dass sie ihren Hunger, der sonst unstillbar schien, in kürzester Zeit gestillt hatten. Noch bevor der blutrote Vollmond seinen Weg am Himmel vollendet hatte, fanden sie sich wieder am schwarzen Turm ein, dicht beieinander, als wären sie ein Wesen mit nur einem Schatten.
Eng schmiegte sie sich an sein Fell, spürte, zitternd vor Leidenschaft, wie er sie auf seine Arme nahm und sie in den Turm trug.
Für ihre Liebe gab es keine Worte, doch die Wucht ihrer Leidenschaft hätte den schwarzen Turm in seinen Grundfesten erschüttern können, würde er nicht in ihrem gemeinsamen Rhythmus mitschwingen. Kein Gedanke galt dem Sonnenaufgang, der wieder die Trennung bedeuten würde, Einsamkeit bis der nächste Vollmond die Nacht wieder mit Blut tränken würde.

Gewidmet Larry Wolf, dessen Bild mich zu der Geschichte inspiriert hat.


Ich bin Ingenieurin und Mutter von drei Kindern und schreibe gern die Geschichten auf, die mir zufliegen.