Leumond
März 2004

Ein Abschied


Mathies Gräske



Beklommen schaute sie hinab. Undurchdringliches Dunkel zeigt sich viele Meter unter ihr. Sie hang an einem Felsvorsprung und rang nach Luft. Blut quoll ihr aus dem Mund, denn sie war vor Stunden tief gestürzt..

Sie hatte Glück; War auf einige Büsche gefallen und hatte sich nur wenige Knochen gebrochen, aber viele Prellungen und blaue Flecke am ganzen Körper zu ertragen. Irgendwann war sie aufgewacht. Ihre Kehle ganz trocken. Ein eisiger Wind zog durch den Abgrund, sodass sie fror und zitterte.
Nach einigen Minuten fiel ihr wieder ein, was passiert war. Ihre Schwester hatte sie aus Rache und Neid von einem Felsvorsprung in die Tiefe des berüchtigten "schwarzen Lochs", einem großen, felsigen Erdloch, gestoßen und gelacht, als wäre sie die Gemahlin des Teufels.
Das war Stunden her. Nun lag sie, Julia, auf einem kalten Stein. Ihr Körper schmerzte und sehnte sich nach erholsamer Ruhe. Langsam richtete sie sich auf. Jeder Teil ihres geschundenen Körpers tat weh. Erst jetzt wagte Julia es, nach oben zu schauen. Gut 20 Meter trennten sie von dem Felsvorsprung, der ihr Untergang hätte werden sollen.
Sie besann sich kurz, überlegte, wie sie handeln musste, und beschloss, das schwarze Loch emporzuklettern. Finden würde sie hier sicher niemand - geschweige denn suchen. Dann würde sie zur Polizei gehen und das Krankenhaus aufsuchen. Ihre Schwester würde sich wundern. Und die Eltern wären auf immer böse auf die Missetäterin.
Mit Hoffnung, dem Mut der Verzweiflung und einem starken Verlangen nach Gerechtigkeit begann sie zu klettern...


...Nur noch wenige Meter waren zu überwinden, doch ihre Hände waren eiskalt und klamm. Ständig überkam sie eine Gänsehaut. Doch die Alternative war der Tod. Also nahm sie sich zusammen - wollte es zumindest. Julia stieg weiter hinauf. Kurz darauf waren ihre Hände und Beine ohne Gefühl. Sie musste jeden Stein sehen, den sie berührte, um sicherzugehen, dass sie ihn tatsächlich benutzte. Immer wieder rutschte sie ab; konnte sich gerade noch halten. Immer wieder versuchte sie, ein Stück voran zu kommen, doch es wurde nur noch schlimmer.
Stille Verzweiflung erfüllte langsam ihr Innerstes, so wie der Wind ihren Körper ergriffen hatte. Tränen schossen ihr plötzlich in die Augen. Der Plan ihrer Schwester schien sich nun doch zu erfüllen. Nicht hier, nicht so elend wollte sie sterben. Wut und Ärger machten sich in ihr breit. Aber sie wusste es besser. Sie beruhigte sich, hielt sich mit letzter Kraft fest und verharrte kurz als wenn sie meditieren würde.
Lautlos, ohne Angst, ließ sie letztlich los und stürzte scheinbar unendlich langsam in den Abgrund. "Schade", dachte sie vor ihrem Ende, "dass keiner je erfahren würde, wie ich gekämpft habe".

All denen gewidmet, die immer den Kürzeren ziehen.

Klicke auf diesen Text, um dir die Begleitmusik anzuhören, die zu dieser Geschichte erstellt wurde: abschied.mp3 - 3,4 MByte.


Mathies, hauptberuflich als Programmierer tätig, wohnt seit ein paar Jahren mit seiner Lebensgefährtin in Bremen, werkelt regelmäßig am Leumond und verfasst von Zeit zu Zeit Texte.