Leumond
März 2004

Farabel


Martin Janecke



Eines Tages fragte die Hasenmutter ihre sechs Söhne, was sie später einmal werden wollten.
"Ein großer starker Hase", sagte der erste und die nächsten vier taten es ihm gleich. Der sechste aber antwortete: "Ein großer starker Wolf."
Da war die Mutter sehr traurig. Nicht weil sie enttäuscht war von ihrem Kind, nein, weil sie erkannte welchen Spott es noch zu ertragen haben würde. Und weil sie wusste, dass die Natur seinen Traum nicht zulassen würde.

Als der kleine Hase älter wurde und in die Schule kam, erfuhren auch andere Hasenkinder von seinem Wunsch. Von diesem Zeitpunkt an hatte der junge Hase sehr unter ihren Sticheleien zu leiden.
"Warum willst du nicht mehr zur Schule gehen?", fragte die Hasenmutter, denn irgendwann hatte ihr kleiner Sohn aufgehört, zur Schule gehen zu wollen. Die Hasenmutter sah, dass der von ihr gefürchtete Zeitpunkt herangekommen war. Sie nahm den kleinen Hasen bei der Pfote, setzte sich und erzählte ihm Folgendes: "Weißt du, Sohn, es gibt bei uns eine Fabel. Mir hat man sie erzählt, da war ich gerade so alt, wie du jetzt bist.
Es war einmal ein kleiner Menschenjunge. Der lebte am Rand einer Stadt in den ärmsten Verhältnissen. Er gab sich aber nicht mit seiner Situation zufrieden, denn er hatte einen Traum. Einmal in seinem Leben wollte er in einem schönen Anzug in einem schönen Restaurant ein schönes Mahl zu sich nehmen. Mit einer schönen Frau, und dem schön angezogenen Kellner ein schönes Trinkgeld geben..."
"Eine schöne Geschichte", sagte der kleine Hase.
"...Warte, sie ist noch nicht zu Ende.
Der kleine Menschenjunge wuchs heran und arbeitete sein ganzes Leben hart. Obwohl er von den Leuten aus seinem Elendsviertel dafür stets ausgelacht wurde."
Die Hasenmutter machte eine Pause und streichelte ihrem Sohn die Ohren.
"Und dann? Was ist dann passiert?", fragte der Kleine.
"Dann war der Mensch alt und starb.
Nicht einmal einen schönen Anzug hatte er trotz seiner harten Arbeit kaufen können. Ich möchte dich nicht enttäuschen. Aber egal wie fest du daran glaubst, wir Hasen können keine Wölfe werden. So ist die Natur."
"Oh."
Dann saß der kleine Hase mit seiner Mutter noch lange still schweigend am selben Fleck und schaute in den Tag.