Leumond
März 2004

Lebensängste


Heiko Sonnleitner-Seegmüller



Unermüdlich hatte das Dunkel der Nacht gegen die wärmenden Strahlen der Sonne gekämpft. Still, fast rauschend lagen die grauen Straßen der Stadt in einsamem Schweigen. Nur das gleißende, kalte Licht unzähliger Laternen erhellte den Weg; bot ungewissen Schutz in der allgegenwärtigen Dunkelheit.
M. lief durch die hohen, alten Häuserschluchten dieser unbelebten Einkaufsstraße. Ihre ängstlichen Augen wanderten über die mit Schaufenstern übersäten Fassaden. Als sei sie der letzte existierende Mensch auf dieser einsamen Welt trugen sie ihre Beine immer weiter. Ihr Herz pochte; fast hörbar. Ihr Atem hart und schwer. Immer wieder wandte sie ihre Blicke von diesem Weg ab. Als würden tausende Augen ihren Körper erfassen; sie begleiten auf ihrem Weg. Immer wieder tauchten die unerträglichen Bilder verstorbener Menschen in den Schaufenstern vor ihrem geistigen, inneren Auge auf; beängstigend, beunruhigend. Ohne realen Beleg und doch eingebrannt in ihre Gedanken; in ihrer Vorstellung dieser Welt. Die tödliche Angst ergriff ihren Körper, ihre Gedanken mehr und mehr. Der kalte Schweiß der Angst suchte seinen Weg durch die unzähligen Furchen ihrer geballten, kalten Hände. Ihre Schritte; schneller und schneller. Näher und näher kam die erlösende Rettung. Nicht mehr lange; sie würde es schaffen; sie würde in ihre Wohnung gehen und die scheinbar unendlichen Minuten der Angst vergessen. Ihre Wände, die alten Mauern des Hauses würden sie beschützen.
Ein lauter Knall. Metallisch, hohl.
M. erschrak. Ihr Körper beinahe gelähmt. Ihr Herz pochte an ihre Brust. Ihr Puls; spürbar unter ihrer jungen Haut. Der Atem stockte.
Ein Hund bellte.
M. wandte sich um. Leere beherrschte alles um sie herum. Flach und schnell wurde ihr Atem. Unbändige Angst schien ihre, bis vor kurzem rasenden, Gedanken zu betäuben; verbannte sie in das allgegenwärtige Reich der Nichtigkeit.
Die junge Frau wandte sich wieder ihrem Weg zu. Schneller und schneller wurden ihre Schritte. Schneller und schneller schlug ihr ängstliches Herz. Immer wieder wanderten ihre Augen über den grauen Asphalt. Nur noch einige wenige Schritte. Schritte der Angst. Ein Weg der unendlichen Ohnmacht.
Die Ängstliche blieb vor der alten, dunklen Tür stehen. Schnell öffnete sie den Weg in die erhoffte Sicherheit. Schwarz lag der lange Flur vor ihren Augen. Ohne das schützende Licht zu betätigen rannte sie durch den steinernen Weg. Ein hallendes Geräusch; bei jedem Schritt. Schneller und schneller trugen sie ihre schlanken Beine. Immer wieder blickte sie sich um. Ihre Hand erfasste den kalten Schlüssel; zog ihn aus der Manteltasche. Sie blieb stehen. Noch immer unendliche Dunkelheit. Schnell, automatisiert, steckte sie das Metall in das Schloss; öffnete die Tür. Ein Schritt. Das Tor in die Dunkelheit schloss sich. Freiheit; Schutz.
M. wurde ruhiger. Langsam verschwand die alles beherrschende Angst aus ihrem angestrengten Körper. Ruhiger und kontrollierter wurden ihre Gedanken; kehrte die verlorene Sicherheit zurück.
Ihre Beine trugen sie durch den kleinen, hell erleuchteten Flur direkt in das kleine, warme Wohnzimmer. Ein sachter Druck auf den kalten Lichtschalter. Alles um sie herum tauchte in ein warmes Licht. Ruhig lief sie auf den kleinen, grünen Sessel zu; ließ sich langsam in den weichen Sitz sinken. Für einen kurzen Moment erschlaffte ihr schmächtiger Körper, dann kehrte die Spannung zurück. Gedankenversunken stand M. auf. Ihre müden Beine sollten sie in die nahe Küche tragen. Noch einmal schweiften ihre Gedanken über die Erlebnisse der letzten Minuten. Noch einmal lächelte sie über die unerklärliche, gedankenversunkene Angst, welche sie auf ihrem Weg begleitet hatte.
Erschrocken verkrampfte die Frau. M. verlor den Halt. Der Teppich glitt unter ihren Füßen über den glatten, kalten Parkettboden. Machtlos griffen ihre Finger nach dem Nichts. Ihr Atem stockte. Scheinbar schwerelos hing ihr hilfloser Körper in der warmen Luft des stillen Raumes. Schnell wandte sie ihre Augen auf den Boden, welchen sie unvermeidlich erreichen musste. Ihre Augen erfassten den schwarzen, spitzen Schürhaken, welcher unverrückbar in seiner alten Halterung stand. Immer näher und näher kam sie auf ihn zu. M. öffnete den Mund; wollte schreien. Ihre Augen wurden weit. Entsetzen.
Ein tödlicher Schmerz erfasste ihren Körper; ließ jede Faser, jeden Muskel verkrampfen. Immer tiefer und tiefer bohrte sich der Tod in ihre Eingeweide. Schmerz, unermessliche Qual erfüllte die Frau.
Der Sog tödlicher Umnachtung erfasste ihre letzten Gedanken. Ihr Leben; noch ein letztes mal erinnerte sie sich an ihre Kindheit, ihr Leben. Noch einmal sah sie sich auf der Straße; vor einige Minuten. Ein letztes Mal tauchte die Frage in ihr auf: Aus welchem Grund hatte sie Angst gehabt?
Dann tauchte sie hinab in ein unbekanntes Reich.

Die Geschichte entstand wie die meisten Geschichten entstehen. Ich hatte sie im Kopf und ein Drang brachte mich dazu, sie zu schreiben. Die Geschichte ist nicht ausgearbeitet und vielleicht überschlagen sich die Ereignisse im Text. Das soll auch so sein, denn das Leben ist nicht langsam, gerade. Im Leben überschneiden sich Ereignisse; manchmal in schneller Folge. Und Hektik ist in einem Text nur erkennbar, schreibe ich hektisch.


Ich mag keine Geschichten, die sich immer wieder an die gleichen, alten Regeln halten. Schreiben ist ein Ausdruck der Persönlichkeit und Stile und stilistische Mittel sollten dem Autor eigen sein. In meinen Geschichten versuche ich den Leser in die Situation der Handlung zu versetzen. Ich selbst sehe das Geschriebene vor meinem „Inneren Auge“ und bin mitten in der Geschichte. Manchmal ertappe ich mich, wie ich mich ängstlich umsehe wenn ich schreibe, manchmal freue ich mich mit meinen Figuren. Meine Figuren sind auch nie geradelinig. Sie sind nie berechenbar und wechseln oftmals sehr schnell ihren Charakter, so wie dies auch bei einem realen Menschen der Fall ist. Die Figuren haben nur eine ganz grobe Richtung.
An ein bestimmtes Genre halte ich mich nicht und oftmals passen meine Geschichten nicht in eine bestimmte Sparte.
Worauf ich Wert lege? Meine Geschichten müssen etwas aussagen. Sie müssen eine gewisse Tiefe haben. Egal ob ich gerade Horror oder eine Liebesgeschichte schreibe. Sie müssen eine gewisse Tiefe besitzen.
Was ich hasse? Verlage die Einheitsbrei produzieren. Das kommt leider viel zu oft vor.