Leumond
Mai 2005

Ein Zeitvertreib für Mucki


Elfriede Herold



Geraldine schaute in immer kürzeren Zwischenräumen auf die Uhr. Draußen fiel die Dämmerung über das Dächergewirr, das vor den Fenstern der kleinen Wohnung ausgebreitet lag. Wind orgelte darüber hin; warmer, frischer Frühlingswind, der ein Lied vom Leben zu singen schien. Die Uhr an der Wand zeigte auf 20 Minuten nach sechs. Manfred hätte also schon hier sein müssen, wenn ... ja, wenn es ihm einmal in den Sinn gekommen wäre pünktlich zu seiner Frau heimzukehren, anstatt sie immer wieder warten zu lassen.
Sie legte das Strickzeug beiseite und begann ungeduldig im Zimmer auf- und abzugehen, wie in einer Gefängniszelle.
Mucki, der mittelgroße, rot getigerte Kater kam daher gesprungen und haschte nach Geraldines Rocksaum, weil er dieses Auf- und Abgehen offenbar für ein neues Spiel hielt. Geraldine bückte sich und kraulte ein wenig das Kätzchen. Heute tat sie es einfach gedankenlos, ohne dadurch eine Erleichterung zu spüren.
Nun war sie so gut wie am Ende; sie glaubte, dieses Leben wohl nicht länger ertragen zu können.... dieses Ausgeschaltet- und Eingesperrt sein, dieses trostlose Warten, während andere.....
Wie stellte Manfred sich das einfach vor? Nahm er an, dass es ihr genüge, seine Kleider in Ordnung zu halten, sein Essen zu bereiten, für den Haushalt zu sorgen? Glaubte er wirklich, dass diese Beschäftigung sie ebenso ausfüllte wie ihm die seine? Nein, es genügte ihr nicht, täglich nur mit Küchenschürze, Eimer und Staubsauger auf Tuchfühlung zu sein. Geraldine hatte sich das ganz anders vorgestellt. Sie schrieb gerne; sie hatte schon öfter Kurzgeschichten und Tiergeschichten zu Papier gebracht. Davon hatte Manfred allerdings keine Ahnung....und was wußte sie eigentlich von seiner Tätigkeit? Wenn sie teilnehmend danach fragte, dann gähnte er oder legte den Arm um sie und meinte: »Laß doch, Liebling! Du verstehst du nicht. Ich habe so genug davon....« Andere Frauen aber durften ihren Männern helfen. Andere.... Ja, andere lebten nicht so jämmerlich am Leben vorbei. Auch sie war jung und hübsch. Als sie Manfred heiratete schien alles Schöne erst zu beginnen. Geraldine war von ihrer Ehe bitter enttäuscht, zumindest schien es ihr so. In dieser Stunde sammelten sich alle immer wieder unterdrückten Wünsche und begannen aufzubegehren.
Ohne richtig zu überlegen schrieb sie ein paar Zeilen auf einen Zettel, auf dem folgendes stand: »Ich kann nicht mehr weiter, Manfred. Du weißt nicht, wie ich dieses Leben satt habe. Vielleicht liebe ich dich auch nicht genug, um dieses ewige Warten ertragen zu können. Bitte suche mich nicht. Ich möchte eine Zeit lang allein sein und alles überdenken. Jedenfalls so kann es nicht weitergehen mit uns. Geraldine«. und legte ihn auf den Kühlschrank.
Als sie schon in Hut und Mantel da stand, bemerkte sie den erstaunt fragenden Blick von Mucky, der sehr ungern allein gelassen wurde. Plötzlich tat ihr das Tier leid, und sie bückte sich rasch, um es zu streicheln. Sie ärgerte sich über sich selbst wegen ihrer Sentimentalität wegen einer Katze! In der Schüssel war genügend Milch, Kittekat in einer anderen.... und Manfred musste ja doch einmal kommen.
Geraldine lief durch Gassen und Straßen als würde man am Ende ins Land der Seeligkeit gelangen. Jeder dreiste Blick, der sie streifte, jedes fremde Lächeln, das ihr galt, war ihr willkommen. Nach langer Zeit wieder tun dürfen, was ihr behagte! Sie ging gerade aus, in ein Kino, weil es dort einen Film gab, den Manfred sich niemals mit ihr angesehen haben würde; »La Traviata« mit Edita Gruberova und Nikolai Gedda in den Hauptrollen. Ja, dieser Mann gefiel ihr und die Musik....... wirklich ein außerordentlicher Genuß. Verdi könnte sie jeden Tag hören. Verträumt summte sie sogar die Melodie, denn sie war ihr so vertraut und kannte jeden Ton. Nichts konnte die plötzliche, gierige Freude an der neuen Unabhängigkeit trüben.
Nach dem Film suchte sie im Cafe Mozart nach einem Platz zwischen plaudernden Paaren, durchstöberte allerlei Zeitschriften. Plötzlich holte sie sich eine Füllfeder aus der Handtasche, einen Bogen Papier, und schon standen Worte, Sätze darauf. Sie schrieb und fühlte sich erleichtert. Sie hatte ihre Freiheit, und das konnte ihr niemand nehmen. Warum ging Manfred so selten mit ihr ins Kaffeehaus?.....
Es war schon ziemlich spät, als Geraldine ihre beste Freundin Doris aufsuchte in der festen Absicht, ihr von der großen Änderung in ihrem Leben zu erzählen, sie um Rat zu bitten. Die Freundin war recht überrascht über den unangemeldeten Besuch. Sie war eben im Begriff gewesen sich zu Bett zu begeben. »Du ahnst nicht wie müde mich diese eintönige Büroarbeit macht, Geraldine«, klagte sie. »Ach ja, du hast es besser. Dein Mann sieht nicht nur gut aus, er hat auch den Ehrgeiz beruflich weiterzukommen, um dir mehr bieten zu können. Du Beneidenswerte! Hast du dich etwa wieder schriftstellerisch betätigt?«
Geraldine brachte kein Wort von dem über die Lippen, was sie Doris hatte anvertrauen wollen. Nach einer Viertelstunde verabschiedete sie sich und ging wieder fort. Unten leerten sich langsam die Straßen. Wie spät mochte es sein? Schon stieg sie in eine Garnitur der Linie 6. Bis zur U4 waren es nur 3 Stationen. Das warme Licht in der U-Bahn verscheuchte ihre dunklen Gedanken. Nur wenig Leute waren noch unterwegs. Urplötzlich überkam Geraldine eine heftige Sehnsucht nach ihrer kleinen Wohnung, nach dem Gefühl daheim zu sein, nach Manfred. Er musste ihren Zettel längst gefunden haben. Ob er diese bösen, unzufriedenen Worte jemals verzeihen würde?Sie mussten ihn tief verletzt haben, denn er war stolz und empfindlich, aber er liebte seine Frau.
Zögernd öffnete sie die Wohnungstür. »Da bist du ja endlich, geliebte Geraldine, beinahe hätte ich mich schon gesorgt« rief ihr Manfreds Stimme sanft entgegen. Dann kam er selbst daher und zog sie ins Zimmer. »Warst du bei deiner Freundin Doris, ja? Ihr habt euch verplaudert, gib es zu. Wenn Doris einmal ins Reden kommt, dann...... Oh, ihr Frauen!«
Er lächelte fast schelmenhaft. Geraldine ging stumm in die Küche und suchte den Zettel. Er war nirgends zu sehen. Also spielte Manfred ihr nur eine Komödie vor. Das hatte ihr noch gefehlt. Oh Göttin Fortuna, sie liebte ihn doch, wie sollte sie ihm das jemals beweisen? »Na, Liebling, erzähl` doch!« rief Manfred von nebenan. Geraldine wollte eben etwas über den Zettel sagen; da bemerkte sie Mucky, das rot getigerte Katerchen, das unter dem Küchentisch vergnügt mit einem zerknüllten Stückchen Papier spielte. Der Kühlschrank stand offen - Mucki hatte sich wieder einmal ein schönes Stück Fleisch hervorgeholt und allerlei, was eben ein Katzengaumen für sich zu beanspruchen pflegte. Das hatte sich Mucki jetzt schon zur Gewohnheit gemacht; Kühlschrank auf, Fleisch heraus, Fleisch verzehren - den Kühlschrank zu schließen das schien der Kater nicht zu können.....Mucki hatte es auch auf eine spezielle Wurstsorte abgesehen. Er beschnupperte alle Päckchen, die im Kühlschrank aufbewahrt waren. Schnell zog er das Größte hervor, öffnete es mit seinen Samtpfötchen. Ruck - zuck, ja, das war das Richtige. Mhmm ! Das schmeckte köstlich.
Geraldine bückte sich und erkannte die Überreste ihres Zettels, der wohl längst nicht mehr auf dem Kühlschrank gelegen war als Manfred heimkam. Sie hob Mucki auf ihren Arm und streichelte das niedliche Tier so zärtlich, wie sie es lange nicht mehr getan hatte...

Schreibe Kurzprosa, Lyrik, Schmunzelgeschichten, Fabeln, Märchen, Kurzkrimis, experimentelle Prosa. Meine Lieblingautoren: Marie von Ebner-Eschenbach, Josef Freiherr von Eichendorff, Nikolaus Lenau. In der Musik gehören zu meinen bevorzugten Komponisten: Emmerich Kalman, Giuseppe Verdi, Ludwig van Beethoven, W.A. Mozart.