Leumond
Mai 2005

Gottes Homepage


Niklas Peinecke



Ich erwachte mitten in der Nacht durch ein piependes Geräusch. Es war kein sanftes, allmähliches Erwachen, kein Herübergleiten aus dem Traum. Stattdessen war ich von einem Moment zum nächsten wach: von Null auf Hundert in einem Sekundenbruchteil. Ich griff zum Wecker und drückte auf den Beleuchtungsknopf. Zehn nach Zwölf zeigte das Ziffernblatt, also wirklich mitten in der Nacht. Geräuschvoll drehte ich mich herum und warf einen Blick auf Juri. Der schlief tief und fest. Viele Männer scheinen einen solchen Schlaf zu haben, den Schlaf des holzhackenden Bärenjägers. Nun hatte Juri einen Bären bestenfalls schon einmal im Zoo gesehen und der Brennstoff zur Beheizung unserer Dreizimmerwohnung kam durch ein Kupferrohr, aber die Schlafgewohnheiten schienen diese Evolution überdauert zu haben. Wir Frauen dagegen scheinen leichter zu schlafen, vielleicht hat es mit der Notwendigkeit zu tun, beim leisesten Quieken des Babys sofort bereit zu stehen.
Was ich gehört hatte, war aber kein Baby gewesen. Mir wurde klar, dass es der Computer im Arbeitszimmer war. ich konnte jetzt auch das leise, gleichmäßige Rauschen des Lüfters durch die geöffnete Tür hören. Er musste beim Einschalten jenes Piepen von sich gegeben haben, das mich geweckt hatte. Einmal hatte ich Juri gefragt, warum diese Geräte beim Einschalten immer piepen mussten, und er hatte mir erklärt, dass ein Techniker an diesen Piepsern erkennen könnte, ob etwas mit dem Rechner nicht in Ordnung sei. Das hatte mich an eine Vogelmutter erinnert, die am Piepsen ihrer Küken auf deren Befindlichkeit schließt. Ich kicherte leise, bei der Erinnerung an seinen Gesichtsausdruck, als ich ihm die Analogie erklärte.
Während ich mich fragte, wieso zur Hölle das Ding nachts von selbst anging, stand ich auf (ich gab mir keine Mühe, besonders Leise zu sein, Juri wäre bestenfalls durch heftiges Rütteln wachzubekommen) und ging ins Nebenzimmer. Tatsächlich lief der Rechner. Ich setzte mich auf den Ikea-Drehstuhl vor dem vollgeräumten Schreibtisch und zerdrückte dabei knirschend einige Chipskrümel, die sich noch auf der Sitzfläche befanden. Während ich den Monitor mit der einen Hand einschaltete, tippte ich mit der anderen die Maus an, um den Bildschirmschoner zu deaktivieren. Seltsam, welche Spezialisierung man bei Tätigkeiten entwickelt, die man oft tut. Ich könnte ehrlich gesagt lieber zweihändig Klavier spielen, als zweihändig einen Computer aufzuwecken, aber die tägliche Übung hat entschieden, dass ich diese Fähigkeit dringend brauche, wogegen vom Musizieren wohl nicht allzuviel abhängt.
Während ich weiter über Evolution nachdachte, ein Rudiment aus meinem Biologiestudium, erschien der zunächst leere Desktop auf dem Schirm. Das leise Klickern der Festplatte zeigte mir an, dass gleich noch mehr passieren würde. Zunächst ging das Fenster des Webbrowsers auf, der begann sofort damit, eine Webseite zu laden. Ich warf einen Blick auf die in der Navigationsleiste angezeigte Adresse, aber alles, was dort stand, war eine sehr lange Zahl. Seltsam, ich wusste, dass manche Webangebote Zahlen als Adressen hatten, aber eine so lange Kolonne hatte ich noch nie gesehen. Die Ziffern tanzten wie winzige schwarze Insekten vor meinen nun doch etwas müden Augen, daher schaute ich lieber auf den erscheinenden Inhalt der Seite. Schwarzer Text in einer Serifenschrift auf hellgrauem Hintergrund. Keine Bilder (das beruhigte mich etwas, insgeheim hatte ich wohl befürchtet, Juri hätte sich gewisse Seiten angesehen). Als ich jedoch den Text las, spürte ich, wie sich mir die sprichwörtlichen Nackenhaare aufstellten:

Ich erwachte mitten in der Nacht durch ein piependes Geräusch. Es war kein sanftes, allmähliches Erwachen, kein Herübergleiten aus dem Traum.

Das war genau das, was ich gerade erlebt hatte! Ich las weiter:

Stattdessen war ich von einem Moment zum nächsten wach: von Null auf Hundert in einem Sekundenbruchteil. Ich griff zum Wecker und drückte auf den Beleuchtungsknopf. Zehn nach Zwölf zeigte das Ziffernblatt, also wirklich mitten in der Nacht.

So ging es weiter, eine genaue Beschreibung meiner jüngsten Erlebnisse. Wieder setzte ich mit dem Lesen aus und lehnte mich zurück, um mein pochendes Herz zu beruhigen. Wie konnte eine Webseite meine eigenen Erfahrungen wiedergeben? Etwas gehetzt sah ich mich um, ob ich eventuell irgendwelche Kameras entdecken könnte, kleine, schwarze Glasaugen, hinter denen fleißige Protokollanten mein Verhalten in den Text eines absurden Internetdienstes umsetzten. Natürlich entdeckte ich nichts, außerdem, wie könnte eine Kamera meine Gedanken wiedergeben? Mir fielen, trotz aller wissenschaftlicher Ausbildung, nur übernatürliche Erklärungen ein. Vielleicht hatte ich Gottes eigene Homepage entdeckt, oder vielmehr die Homepage meines eigenen, persönlichen Gottes. Vielleicht gab es auch durch ein bizarres Raumfaltungsphänomen eine direkte Verbindung von meinem Geist in einen Webserver irgendwo auf der Welt. Aber wieso hatte sich mein Rechner dann von selbst eingeschaltet? Außerdem klangen diese Erklärungen wie einer schwächeren Episode von "Outer Limits" entsprungen, aus der Feder am Rande der Arbeitslosigkeit balancierender, kanadischer Drehbuchautoren.
Ich beschloss, die Erklärung zunächst außen vor zu lassen und stattdessen das Phänomen zu untersuchen. Gute Wissenschaftlerin, lobte ich mich selbst in Gedanken. Mir fiel ein, dass mir ein Blick in die Zukunft möglich sein musste, wenn der Text tatsächlich mein Leben wiedergab. Wohlmöglich konnte ich erfahren, ob Juri mich überzeugen könnte, ihn zu heiraten, ob wir Kinder haben werden und wenn ja, wie sie aussähen. Ich griff also zur Maus und rollte die Seite nach unten. Nichts. Nur leerer, grauer Raum. Wieder nach oben gescrollt, war der Text wieder da. Ich las den letzten Satz:

Was ich gehört hatte, war aber kein Baby gewesen.

Während ich nun las, bemerkte ich, dass hinter diesem Satz langsam ein weiterer Satz erschien. So funktionierte das also! Ich musste den Text lesen, um ihn real werden zu lassen. Wieder lehnte ich mich zurück. Potentiell könnte ich, wenn ich den ganzen Text las, daraus die Zukunft erfahren. Allerdings bewegte sich der Text langsamer in der Zeitlinie, als die Realität. Das musste so sein, denn ich brauche schließlich länger, einen Gedanken auf dem Papier zu lesen, als dieser braucht, um mir durch den Kopf zu toben. Ich würde die Gegenwart also nie einholen, geschweige denn die Zukunft lesen. Im Gegenteil: Irgendwann würde wahrscheinlich nur noch der Satz auf dem Bildschirm stehen: "Ich las, dass ich las, dass ich las..." und so weiter. Was würde dann passieren? Würde sich mein Gehirn in sich selbst falten? Würde sich die Zeit immer mehr verlangsamen, bis sie schließlich stillstand, wie im Paradoxon von diesem griechischen Läufer, der die Schildkröte niemals einholt?
Um mich abzulenken, las ich noch einige Absätze, dann riss ich mich mit einer bewussten Willensanstrengung von dem Text los und wählte (mit, wie ich zugebe, zitternden Händen) "Drucken" aus dem Dateimenü. Während der Drucker die Zeichen auf das Papier sang (Drucker singen, zumindest tut mein Drucker das), schaltete ich den Bildschirm aus, um mich am weiteren Lesen zu hindern. Ich überließ den Drucker seiner Arie, stand auf und verließ das Zimmer. Immer noch mit wild klopfendem Herzen zog ich die Tür hinter mir zu und schloß sie ab. Dann ging ich ins Schlafzimmer zurück und legte mich wieder hin. Juri schnarchte noch immer gleichmäßig vor sich hin, für ihn war nichts geschehen. Ich schloss die Augen und muss sofort eingeschlafen sein, zumindest kann ich mich an nichts weiteres erinnern.

Am nächsten Morgen war der Computer wieder aus. Dies ist der Text, den ich im Ausgabeschacht des Druckers fand.

Zu dieser Geschichte inspirierte mich eine Diskussion mit Kaorin über Rekursion und die zyklische Kurzgeschichte "Auto Wreck".
Bisher habe ich nur wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht, dies ist meine erste nichtwissenschaftliche Publikation.


Im richtigen Leben ist Niklas Peinecke Mathematiker und Programmierer. Aber auch in seinem Hobby, der Schriftstellerei, lassen ihn die Fragen der Informationsgesellschaft nie ganz in Ruhe.