Leumond
Februar 2005

Der Rollstuhlmann


Christian Ertl



Tim und Michael sahen den Mann im Rollstuhl kommen. Sie saßen schon geraume Zeit wartend auf der Bank vor dem Spielplatz und wünschten sich den Rollstuhlmann herbei. Er war nett zu ihnen und versorgte sie mit billigem Bier und manchmal auch ein paar Zigaretten. Er war sehr darauf bedacht, das sich "seine Jungs" immer schön brav um drei Uhr nachmittags am Spielplatz einfanden. Dafür, und für so manches andere, bekamen sie dann auch ihren Alkohol und wer wie diese Jungs Kinder sozialschmarotzender Eltern ist, der war froh um die tägliche Portion Realitätsverlust.
Tim stand auf und sagte zu Michael im Flüsterton: "Hat er dich schon mal angefasst?" Michael nickte. "Er wollte, das ich ihn nach Hause begleite, aber ich habe mich nicht getraut. Er hat gedroht, mir nichts mehr zu geben. Ich glaube, er hat Probleme mit Steve gehabt." Tim fuhr herum und sah in mit aufgerissenen Augen an. Steve war Tims kleiner Bruder.
"Du wusstest es nicht?" Der Rollstuhlmann war nur noch zwanzig Meter entfernt. Michael sprang auf, um Tim sofort am Arm zu packen und fragte noch mal. "Nein," flüsterte Tim in abgrundtiefem Hass mit glühendem Blick auf den Rollstuhlmann, "nein, nicht Steve."
"Du wirst ihm nichts tun", drohte Michael.
"Ich wünschte, er würde tot umfallen", sagte Tim.
Das tat der Rollstuhlmann dann auch. Zehn Meter vor den beiden kippte er vornüber aus dem Rollstuhl, zuckte ein paar mal und verstarb grinsend mit Schaum vor dem Mund. Michael hielt seinen Freund immer noch am Arm fest.
"Warst du das?" Michael bekam es jetzt mit der Angst zu tun.
"Nein." Tim drehte sich zu Michael und blickte ihm tief in die Augen. "Ich glaube nicht."