Die denkende Scheune
Niklas Peinecke
Einmal kam der Lange Mann auf seiner Wanderung durch den Wald in ein Dorf, in dem ein großes Fest gefeiert wurde. Mitten zwischen den Häusern war eine hölzerne Bühne errichtet, auf der eine Gruppe von jungen Leuten stand. Sie hatten kleine Kränze aus Blumen um die Hälse und Köpfe gewunden. Die Menschen vor der Bühne lachten und freuten sich.
Da fragte der Lange Mann eine in der Nähe stehende Frau, was das Fest zu bedeuten habe, und sie antwortete: »Es ist das Fest der Bürgerschaft. Diese Kinder sind heute alt genug, um Bürger des Dorfes zu werden. Sie müssen nur eine Frage beantworten, um zu zeigen, dass sie klug genug sind, diese Verantwortung zu tragen.«
Der Lange Mann ging weiter. Bald fand er am Rand der Menge eine alte Frau, die gebückt dort stand und weinte. Ein großer, sehr dünner Junge hatte seinen Arm um sie gelegt und versuchte, sie zu trösten.
»Alte Frau«, sprach der Lange Mann, »was hast Du, dass Du so bitter weinst?«
»Mein Sohn kann die Frage nicht beantworten«, antwortete die Alte unter Tränen. »So wird er Zeit seines Lebens ein Nichtbürger bleiben und niedere Frondienste verrichten müssen.«
»Wenn dem so ist, worin besteht denn diese Frage? Kann er die Antwort nicht lernen?«
Die Alte schüttelte traurig den Kopf und gab ihm Auskunft: »Es ist eine Aufgabe des Rechnens. Der Meister des Dorfes fragt, wenn man viele Körbe hat und jeder Korb viele Äpfel enthalte, wieviele Äpfel das insgesamt seien. Da die Zahlen immer anders sind, kann er es nicht lernen.«
»Er soll also zwei große Zahlen malnehmen?« vergewisserte sich der Lange Mann.
Die alte Frau nickte.
»Wenn es so liegt, will ich Euch helfen.«
Der Lange Mann nahm seine Wohnung im Haus der alten Frau. Schon am nächsten Tag begann er die Vorbereitungen. Er suchte einen großen Raum und fand eine leere Scheune am Rand des Dorfes geeignet. Dann ging er auf den Dorfplatz, wo ein wöchentlicher Markt stattfand. Auf diesem verpflichtete er sich drei Pelzer, halbwilde Wesen des Waldes, die dort Beeren und Nüsse zum Tausch feil boten. Gegen eine geringe Bezahlung versprachen sie, zu tun, was er verlangte.
Den ersten Pelzer lehrte er nun, eine große Zahl als eine rechteckige Tabelle von Kreisen und Kreuzen auf ein Stück Papier zu malen. Der Pelzer war zunächst recht ungeschickt, doch nach einer Weile begriff er, was er tun musste.
Den zweiten Pelzer lehrte er, die noch leeren Felder der Tabelle nach bestimmten Regeln mit weiteren Symbolen zu füllen. Die kleinen Wesen des Waldes haben keine Schrift, doch spielen sie gerne ein Spiel mit Würfeln. So lernte der Pelzer auch dies.
Dem letzten Pelzer jedoch brachte er bei, die unterste Reihe der Tabelle in eine Zahl zu übersetzen und diese mit lauter Stimme zu verkünden. Die Stimme des Pelzers war dünn, doch der Lange Mann fand sie für seinen Zweck ausreichend.
Nun hatte diese Vorbereitung eine Woche gedauert. Da trat der Lange Mann mit der alten Frau und ihrem Sohn vor den Bürgermeister und verlangte die Aufnahme des Jungen in die Bürgerschaft.
»Die Regeln bestehen seit Alters her«, sagte der Meister. »Wer die Frage beantwortet, wird ein Bürger, und nur dieser.«
So führte der Lange Mann den Meister vor die Scheune. Viele Bürger hörten davon und schlossen sich ihnen an.
Der Lange Mann trat nun vor die Leute und sagte: »Wer die Frage beantwortet, wird ein Bürger, und nur dieser. Bürgermeister, so stellt Eure Frage dann der Scheune.«
Die Leute raunten und der Meister zögerte, doch der Lange Mann hatte einen Ruf als kluger Gesell, wenn auch viele ihn für etwas seltsam hielten. Also fragte der Bürgermeister nach einem kurzen Moment: »Scheune, sagt mir: Wieviele Äpfel enthalten vier Hunderte von Körben zu fünfzehn Früchten?«
Es war einen Augenblick still, dann hörte man die dünne Stimme des dritten Pelzers aus der Scheune krächzen: »Sechs Tausende!«
Ein Murmeln ging durch die versammelte Menge, doch der Meister musste anerkennen, dass das Ergebnis richtig sei.
Darauf rief der Kämmerer: »Es ist ein Trick!« Und zum Beweis öffnete er das Tor der Scheune, hinter dem die drei Pelzer standen.
»Nun, wenn es denn ein Trick sei, so fragt doch die Pelzer Eure Frage«, gab der Lange Mann zur Antwort.
Da befragten der Kämmerer und der Bürgermeister die kleinen Waldbewohner nacheinander, doch jeder der drei sah sie nur unverständig an. Lediglich der erste von ihnen schrieb etwas Seltsames auf ein Stück Papier und hielt es ihnen erwartungsvoll entgegen.
»Ihr seht«, sagte der Lange Mann, »keiner dieser Pelzer kann für sich die Frage beantworten. Auch die Scheune kann es nicht. Weilen sie jedoch zusammen in der Scheune, so bekommt Ihr Eure Antwort.« Er wies nun auf den dünnen Sohn der alten Frau. »Verweigert Ihr nun diesem Jungen seine Bürgerschaft, so müsst Ihr der Scheune die Bürgerschaft geben, solange die drei Pelzer in ihr weilen!«
Also gaben die Dorfbewohner der Scheune und den Pelzern den Titel eines Bürgers, solange sie zusammen seien. Der dünne Junge aber wurde zur harten Arbeit bestimmt. Betrübt verließ da der Lange Mann das Dorf und ging in den Wald zurück.
Im richtigen Leben ist Niklas Peinecke Mathematiker und Programmierer. Aber auch in seinem Hobby, der Schriftstellerei, lassen ihn die Fragen der Informationsgesellschaft nie ganz in Ruhe.