Es war im Oktober
Thilo Bachmann
Wolfgang besuchte seine Schwester im Spital, die gerade eine ungefährliche Operation hinter sich hatte. Zufällig ging er an einer offenen Krankenzimmertüre vorbei; Im Bett sah er einen jungen Mann mit auffallend eingefallenem Gesicht liegen, eine etwa gleichaltrige Frau sich besorgt um ihn bemühend, wie sie ihm mit einem Löffel selbst verfertigte Nahrung in den
Mund schob.
Wolfgang setzte sich im Freien nahe dem Eingang auf eine Bank, zündete sich nachdenklich eine Zigarette an. Nach einer Weile erschien die junge Besucherin von jenem Zimmer in der Eingangstür, zögerte und näherte sich der Bank, auf der Wolfgang rauchend saß und ließ sich leicht erschöpft neben ihm nieder. »Könnten Sie mir eine Zigarette verkaufen?« fragte die junge Frau. Wolfgang sagte freundlich: »Sie können auch zwei geschenkt haben«. Sie nahm eine und sagte traurig: »Mein Mann leidet seit einiger Zeit an Krebs. Er ist noch so jung und wird den Heiligen Abend nicht mehr erleben.«
Wolfgang meinte mitleidig: »Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee in der Konditorei Prschemisl einladen nicht weit von hier ?«.
Die Frau überlegte unentschlossen, nickte dann und sagte: »Also gut. Es ist eigentlich nicht meine Gewohnheit mich von fremden Leuten einladen zu lassen, aber«. Etwas Später standen sie vor der geschlossenen Konditorei. Wolfgang sah sie verlegen an. »Ach ja, mein Name ist Wolfgang Mantel« stellte er sich vor. »Soso« versetzte sie, »Ich heiße Inge Nachtweih. Tja, aus der Einladung wird es nichts. Ich braue bei mir zuhause beim Neptunbrunnen einen besseren Kaffee. Wenn Sie mich nach Hause begleiten wollen, Herr Mantel, können Sie bei mir eine Tasse Mokka trinken.« Wolfgang erwiderte unbeholfen: »Ich möchte Ihnen aber nicht zur Last fallen«. - Sie standen vor ihrer Wohnung, Inge sperrte sie auf, forderte ihren Begleiter auf einzutreten und Platz zu nehmen. Während sie den Kaffee zubereitete, sagte Inge über ihre Schulter hinweg: »Ich weiß nicht, warum ich Ihnen vertraue, Herr Mantel; Es ist das erste Mal, dass ich einen fremden Mann in meine Wohnung lasse«. Beide nippten genüsslich an ihren dampfenden Tassen und schwiegen. Inge fragte unvermittelt: »Wie alt mögen Sie sein? Sie sind höchstens 30 Jahre. Sie sehen gut aus.« »Schon etwas drüber, Frau Nachtweih. Ihr Vorname gefällt mir allerdings besser.« Inges schlanker Körper bewegte sich anmutig zum Bad und verschwand in Richtung Badezimmer. Er hörte das Wasser in der Badewanne rauschen. Inge badete lange und ausgiebig. »Wie wäre es mit einem Bad bei Ihnen, Herr Mantel? Sie könnten es gebrauchen«; rief Inge vom Bad aus, trocknete sich ab, hüllte sich in ihren Bademantel. Wolfgang hatte sich erhoben; Inge glitt aus dem Badezimmer, als Wolfgang nahe bei ihr vorbeischritt - Er sog den betörenden Geruch von Camayseife und Duschgel in sich ein - und setzte sich in einen Lederfauteuil. Er entkleidete sich, ließ Wasser in die Badewanne, badete und wusch seine Haare. Dann warf er sich den anderen Bademantel um und schlenderte ins Wohnzimmer zurück. Inge war nicht zu sehen; nur der Geruch von Eau de Cologne war noch in der Luft. »Ich bin hier, Herr Mantel«; hörte er sie aus dem Schlafzimmer rufen. Er betrat es. Alles war hier in Blau, der Spannteppich, ausgenommen die Bettwäsche. »Lassen Sie doch den blöden Herrn Mantel; Mein Zuname widert mich an, Frau Inge«. Sie hatte den Frotteemantel abgestreift, lag auf dem Bett, blickte ihn lächelnd an und sagte: »Legen Sie sich neben mich, aber nicht zu nahe!« Wolfgang kam ihrem Wunsche nach. Er wollte sie und ihre Brüste küssen und berühren, die erst jetzt voll zur Geltung kamen, aber sie schob ihn sanft beiseite. »Später, Wolfgang«, flüsterte sie. Es war schon längst dunkel geworden; Sie lagen im Finstern. Wolfgang nahm Inges Hand; sie entzog sie ihm nicht; Behutsam näherte er sich ihr und begann ihre Brüste zu küssen. Da schmiegte sie sich eng an ihn. Ihre fein geschnittenen Lippen waren samtig und schmeckten nach Honig. Beide waren heftig erregt und wie in Trance.
Inge war wirklich eine Wucht im Bett, ihre Hände zärtlich und sanft; alles war gekonnt und wirkte gefühlvoll und ungekünstelt. Zwei Menschen hatten einander gefunden, aber es blieb nur ein beglückender Rausch, der voll ausgekostet wurde. Sie konnten gar nicht genug bekommen. Danach schlief er erschöpft ein. Wolfgang erhob sich leise und schrieb auf einem Briefpapier.
»Du hast mir etwas geschenkt, was mir nicht gehörte. Trotzdem danke ich dir sehr dafür. Wenn du aber trotzdem mit mir weiter in Kontakt bleiben willst, hier meine Telephonnummer und Adresse. Ich liebe dich. Dein Wolfgang.«
Er verließ die Wohnung. Inge schrieb nicht und rief nicht an. Enttäuscht und innerlich vereinsamt verrichtete er verbissen seine Arbeit, um sie zu vergessen.
Nach fast zwei Jahren schrieb ihm Inge. »Ich war erst jetzt in der Lage dir zu schreiben, denn nach dem Tode meines Mannes vor zwei Jahren glaubte ich, ihm eine Zeit lang treu bleiben zu müssen. Wenn du mich inzwischen nicht vergessen hast, komm zum Neptunbrunnen.« Sie trafen sich wieder; aber solche Stunden der Berauschung und des Glücks wie damals - damit war es vorbei.
Thilo schreibt außer den hier aufgeführten Geschichten gerne Kurzkrimis, Weihnachtsgeschichten, Gedichte und Essays. Zudem ist er Hobbypianist. Seine Lieblingsautoren sind: Dostojewsky und Gustav Freytag