Ende eines Auftrags
Mathies Gräske
Auftrag 97. Fast 100! Bald gibt es etwas zu feiern.
Joseph hat mir wieder einen Job verschafft. Das Ziel ist diesmal eine gewisse »Joana Gordon«. Ein Bild konnte Joseph mir nicht besorgen - etwas eigenartig. Normalerweise informiert er sich umfassend über alle nötigen Details. Dabei ist er zwar sehr höflich, gibt aber über sich selbst kaum etwas preis. Seine Privatsphäre ist ihm offenbar sehr wichtig.
Ich muss Joana Gordon also anhand seiner (ausführlichen) Beschreibung finden. Joseph beschrieb mir einen Teil ihres Tagesablaufs. Er weiß zwar nicht, wo sie wohnt, aber immerhin, dass sie regelmäßig in einem örtlichen Supermarkt einkaufen geht.
Also stelle ich mich an eine Stelle, an der ich alle Ein- und Ausgänge überblicken kann. Ich kam am frühen Morgen, um das Ziel auf keinen Fall zu übersehen. Joseph wusste nicht, wann sie im Supermarkt eintreffen würde. Ich wundere mich immer mehr darüber, dass Joseph so wenig über das Ziel weiß. Dennoch lasse ich mich nicht irritieren. Wartend verbringe ich ein paar Stunden an meiner Position. Es herrscht noch nicht viel Betrieb. Wahrscheinlich würde erst am Nachmittag reger Andrang herrschen. Dennoch zermürbt mich das lange, anstrengende Warten. Ich muss mir jede Person genau anschauen und mit Josephs Vorgaben vergleichen.
Gegen Mittag kommt die Zielperson endlich durch einen der Eingänge geschritten. Ich erkenne sie sofort: Sie erfüllt das Klischee einer Karrierefrau, trägt Minirock und Absatzschuhe. Trotz der Autorität, die solch eine Kleidung ausstrahlen sollte, wirkt sie nicht besonders anziehend. Das liegt vor allem daran, dass sie kein besonders schönes Gesicht hat. Zudem zeigt ihre Miene Abgespanntheit und Frust.
Vermutlich ist sie auf dem Weg zum Mittagessen. Ich folge ihr unauffällig, um herauszufinden, wer mein Opfer sein soll. Ich interessiere mich grundsätzlich für das Leben meiner Zielpersonen und beschatte sie, sofern ich die Möglichkeit habe. Viele meiner Opfer haben meiner Meinung nach den Tod verdient oder leben so, dass es keinen Unterschied macht, ob es sie gibt oder nicht. Sie mögen das menschenverachtend finden, aber als gemäßigter Westeuropäer oder Amerikaner werden sie kaum verstehen, wie die menschliche Psyche tatsächlich funktioniert. Es geht letztlich nur um Macht: Macht zur Fortpflanzung, Macht über Ressourcen, Macht über Menschen. Viele meiner Ziele haben andere Menschen für ihre Zwecke benutzt, vorrangig Drogendealer und Zuhälter. Zum Teil bin ich beim Töten dieser Personen in arge Bedrängnis geraten. Trottelige Lakaie meinen, ihre geldgeprägte Beziehung zu ihrem »Boss« durch falsche Opferbereitschaft zum Ausdruck zu bringen. Im Allgemeinen bemühe ich mich, diese Fehlgeleiteten nicht umzubringen. Oftmals schaffen sie es sogar bei der nächstbesten Gelegenheit ihrer armseligen Existenz irgendwie selbst ein Ende zu bereiten.
Nun mögen Sie festgestellt haben, dass jemand, der Mitbürger beseitigt, besonders verabscheuungswürdig ist. Wahrscheinlich stimmt das auch. Im Gegensatz zu vielen anderen (aber bei weitem nicht der Mehrheit) habe ich keine nennenswerten Gewissensbisse. Wahrscheinlich ist in meiner Kindheit (an die ich mich nicht besonders gut erinnern kann) etwas schiefgelaufen. Vielleicht hat mich niemand gemocht. Wundern würde es mich nicht, denn so ist es immer noch. Ich bin nicht besonders auffällig. Aber jeder, der näher mit mir zu tun haben wollte, hat sich nach kurzer Zeit wieder von mir distanziert, denn mein kaltes Inneres passt irgendwie nicht zu meinem durchnittlichen, durchaus freundlich wirkenden Äußeren.
Die Zielperson wird gerade mit dem Essen fertig. Sie hat sich einen Teller mit Nudeln bestellt und ihn verschlungen, als wenn sie seit zwei Tagen nichts gegessen hätte. Jetzt sieht sie durchaus etwas entspannter aus. Das ist mir nur recht, denn ich töte Menschen bevorzugt, wenn sie vorher etwas angenehmes getan haben. Da ich sie natürlich nicht im Supermarkt umbringen will, folge ich ihr nach draußen. Irgendwo hat sie ein Auto geparkt. Ich steige schnell in mein Auto und folge ihr. Ich nehme an, dass sie zurück zu ihrer Arbeit fahren will. Unangenehmerweise gerät sie unterwegs in einen Verkehrsunfall. Sie nimmt, aus einer Nebenstraße kommend, einem kleinen PKW die Vorfahrt. Offenbar sind ihre Nerven bereits stark angegriffen, denn der Unfall ist geradezu unnötig.
Hier ergibt sich bereits ein Möglichkeit, dem Leben meiner Zielperson ein Ende zu setzen. Allerdings kommen schnell Leute aus der Nähe herbeigelaufen, um zu beobachten oder zu helfen. Meine Chance ist vertan. Die Zielperson muss der Polizei zur Wache folgen und kommt erst nach einigen Stunden - sichtlich entnervt - wieder heraus. Wie ich bereits vermutet hatte, fährt sie nun direkt nach Hause. Da sie in einer belebten Gegend wohnt folge ich ihr in die Wohnung. Praktischerweise wohnt sie im Ergeschoss, sodass ich mir leicht von der Rückseite der Wohnung Zugang verschaffen kann.
Als ich in die Wohnung einsteige kann ich sie in der Küche wütend reden hören. Offenbar telefoniert sie gerade mit einer Freundin, um sich Luft zu verschaffen:
»...Das Essen ist mir gar nicht bekommen. Ich hätte es am liebsten gleich wieder erbrochen! Die geben sich überhaupt keine Mühe mehr! Und dann dieser bescheuerte Unfall! Wo war ich da gerade? Jetzt muss ich diesem alten Penner 800 Euro zahlen, damit er seinen blöden Lackschaden wieder ausbügeln lassen kann! Aber am meisten nervt mich Joseph. Ich könnte ihn vierteilen. Schon seit einer Woche hat er sich nicht gemeldet; Seitdem er weiß, dass ich hinter seine Affäre gekommen bin. Statt sich mir zu stellen! Wer weiß, was er im Moment gerade ausheckt! Er ist sowieso viel zu oft... eigenartig gewesen. Ich schätze, dass wir uns scheiden lassen müssen...«
An der Stelle mit Joseph werde ich stutzig. Eigentlich ist der Name nicht ungewöhnlich, aber in diesem Fall passt Einiges. Joseph ist seit etwa einer Woche extrem übelgelaunt und ist mir gegenüber manchmal ausfällig geworden, obwohl das normalerweise überhaupt nicht seiner Art entspricht. Dennoch bin ich mir nicht sicher, ob tatsächlich eine Übereinstimmung herrscht. Diese Unsicherheit wird jedoch sofort beseitigt.
Es klingelt. Die Zielperson öffnet entnervt die Tür, das Telefon noch in der Hand. Joseph steht davor, grinst blöd. An seiner Anspannung merke ich jedoch bereits, dass er etwas im Schilde führt. Als er hineingeht und die Tür schließt verschwindet sein forciertes Lächeln abrupt. Dafür erscheint eine Waffe in seiner Hand:
»Hallo Schatz! Mir kam gerade zu Ohren, dass wir uns... scheiden lassen?«
»Woher weißt du das? Hast du mich... abgehört?« erwidert sie eingeschüchtert.
»Natürlich! Ich vertraue niemanden! Nicht wahr, mein versteckter Freund?« rief er zu meinem Versteck hinüber.
Ich gebe mein Versteck auf und ging mit gezogener, aber nicht erhobener, 9mm zu Joseph hinüber.
»Was läuft hier?« frage ich Joseph.
»Du solltest sie doch einfach nur umbringen!« ruft Joseph erzürnt. »Ich sitze bereits seit sechs Stunden vor dem Haus und warte darauf, das hier etwas passiert... Und dann dieses Geschwafel von Joana: 'Ich könnte ihn vierteilen. Schon seit einer Woche hat er sich nicht gemeldet'; Bla, bla, bla! Na und? Du bist so langweilig geworden! Wir hatten früher viel mehr Spaß miteinander!«
Joana verzieht das Gesicht als wenn sie gerade etwas bitteres geschluckt hätte und kontert: »Was erwartest du denn, du Held? Wenn wir 'Spaß' haben sollen, musst du wenigestens ab und zu hier sein, sonst wird das nichts!«
»Und nun? Was hast du vor? Willst du tatsächlich deine Frau umbringen? Das wäre ganz schön herzlos; Das kann man doch auch anders klären. Wie wäre es zum Beispiel mit einer Eheber...« will ich fragen, aber Joseph unterbricht mich. Ein Anflug von Wahnwitz wird in seinen Augen sichtbar. Die Situation ist irgendwie absurd.
»Ich bringe euch einfach beide um: Sie, weil...weil... Na weil! Und dich, weil du völlig unfähig bist.«
Mit diesen Worten richtet er seine Waffe auf Joana und erhöht den Druck auf den Abzug.
»Sag auf Wiedersehen zur Welt!«, flötet Joseph.
So kenne ich ihn gar nicht. Dennoch wird mir klar, dass er nicht spaßt.
Ich hebe blitzschnell meine Waffe und schieße ohne mit der Wimper zu zucken auf Joseph. Der hat keinerlei Gegenwehr erwartet und muss sich seinem Schicksal fügen. Eigentlich ungewöhnlich, wenn man bedenkt, was er gerade über Vertrauen gesagt hat. Während mir das keinerlei Probleme bereitet bricht meine eigentliche Zielperson nach einem kurzen Schockmoment furchtbar in Tränen aus, kniet zu Boden und rüttelt vergeblich an ihrem Gatten. Sie sollte lieber einen Krankenwagen rufen. Für mich wird es Zeit zu gehen. Erneut habe ich Leid gesäht und Leid genommen. Besser fühle ich mich heute aber nicht.
Eher hintergangen.
Mathies, hauptberuflich als Programmierer tätig, wohnt seit ein paar Jahren mit seiner Lebensgefährtin in Bremen, werkelt regelmäßig am Leumond und verfasst von Zeit zu Zeit Texte.