Leumond
September 2004

Einfach so


Siffer Adrian Merguhl



„Die Sterne sehen und sterben!“ Mit einem melodramatischen Seufzer ließ sie sich rückwärts fallen.
Sie war eine hoffnungslose Romantikerin. Ihm war es gleich; er mochte sie.
Wie hypnotisiert starrten ihre Augen in unendliche Weiten hinauf, doch ihre Mundwinkel wurden von einem hingebungsvollen Lächeln umspielt. Sie dachte, sie müsse ihm alles erzählen über Cassiopeia, Andromeda und Pegasus, aber es amüsierte ihn mehr, als es ihn interessierte. Deswegen war er nicht hier.
Er saß immer noch neben ihr, sah auf sie herab, unentschlossen erst. Einmal noch wollte er sie spüren, diese feuchten, fordernden Lippen. Er versuchte, es sich ebenfalls gemütlich zu machen, schlug seinen Ellbogen in eine Grasnarbe und legte seinen Kopf in seine Handfläche. Die freie Hand presste er verkrampft gegen seine Seite. Sie hatte ein bauchfreies Top an, und ihre blanke Haut erregte ihn; das wiederum irritierte ihn. Ihr kastanienbraunes Haar duftete nach Pfirsich. Er schloss die Augen und genoss die Stille um sie herum.
„Wie es wohl ist, da draußen?“ Sie zwickte ihn in die Rippen, damit er die Augen wieder auftat. Er blinzelte, lächelte, wollte sich zu ihr herabbeugen. Sie aber neckte ihn und hielt ihn auf Distanz.
Mit gespielter Resignation drehte er sich ebenfalls auf den Rücken, verschränkte seine Arme hinter seinem Kopf. Er spürte, wie sie ihn dabei beobachtete. Er nickte in Richtung ihrer beider Fußspitzen und darüber hinaus, auf die Siedlung an der Traisen, die in einiger Entfernung hügelabwärts lag. Die sternenklare Nacht gewährte ihnen einen makellosen Blick auf all die Häuser, obwohl die Lichtquellen bestenfalls als spärlich zu bezeichnen waren.
„Hier ist es so friedsam, so gediegen“, entgegnete er. „Warum in die Ferne schweifen? Denkst du, dass sie was Bessres bringt?“
„Manchmal ist das Bewährte beengend.“
„Und sonst?“
„Wie sonst?“
„Na wenn es nicht beengend ist?“
Sie drehte sich nun zu ihm um. Keck sah sie ihn an und sagte: „Na dann ist es schon ganz ok.“ Er blickte sie an; sein Gesicht spiegelte sich in ihren Pupillen, verlor sich darin. Sie hatte ihn. Er wusste das, und sie wusste es auch. Er war ihr ausgeliefert. „Küss mich.“
Diesem Befehl konnte er nicht widerstehen, und wollte es auch nicht. Er hob seinen Kopf und presste seine Lippen zärtlich auf die ihren. Er kam in Versuchung, ihre Taille zu berühren, und sie ließ ihn gewähren.
Nach wenigen gefühlvollen Sekunden trennten sie sich. Sie lagen beide wieder auf den Rücken, er wie in Trance, sie beobachtete erneut die Sterne.
Plötzlich: „Da, eine Sternschnuppe!“
Er sah sie ebenfalls. „Und?“
„Ich darf mir jetzt etwas wünschen.“
„Warum?“
„Weil ich eine Sternschnuppe gesehen habe.“
„Aha.“ Er konnte sie nicht recht verstehen. War wohl auch egal. Andererseits ... vielleicht war es auch nicht einerlei. „Jedes Mal, wenn du eine Sternschnuppe siehst, darfst du dir etwas wünschen?“
„Ja klar. Jeder darf das. Diese haben vielleicht Hunderte von Menschen gesehen, und Hunderte von Wünschen werden nun ersehnt.“
„Einfach so?“
„Einfach so.“
„Geht das überhaupt? Ich meine, stell dir bloß mal vor, wie viele Wünsche tagtäglich vom Himmel regnen.“
Diese Umschreibung gefiel ihr. Sie kicherte.
„Du solltest dir nichts wünschen, was nicht in Erfüllung gehen kann.“
Ihre Miene versteinerte sich, wurde todernst. „Danke, dass du mich daran erinnerst. Du bist so ... nüchtern. Ja, das ist das Wort. Nüchtern.“ Sie senkte die Wimpern.
Er schluckte seinen Kloß im Hals hinunter. Dieser Moment hätte nicht so enden dürfen. Er drehte sich zu ihr um und ergriff ihr langes Haar, spielte mit seinen Fingern darin. „Komm mit mir.“
Etwas von dem Zauber, der verflogen schien, kehrte zurück. Ihre Blicke trafen sich von neuem. „Wie ist es dort, wo du herkommst?“
„Anders. Und auch wieder nicht. Unsere Städte sind größer, und wir haben eine andere Mode. Die Flora ist ebenfalls eine andere, mit anderen Bäumen und Blumen. Und wilden Tieren! Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber unsere Wälder sind nicht so zahm wie eure.“
„Wie sind die so, eure wilden Tiere?“
Er fixierte sie einen Moment, dann riss er seine Augen auf, fletschte seine Zähne. Seine Hände bildeten Klauen nach, und dann kam er über sie. Sie begann lauthals zu quieken, als er sie zu kitzeln begann.
Dann wiederholtes Küssen.
„Was wünschst du dir jetzt?“
„Das darf ich nicht sagen.“
„Wieso nicht?“
„Wenn man es laut ausspricht, geht es nicht in Erfüllung. Niemals.“
„Aha.“ Aus diesem Aberglauben wurde er nicht schlau. Denn wenn der Wunsch ihn betraf, etwas mit ihm zu tun hatte, wie konnte er ihn erfüllen, wenn er ihn nicht kannte? Aber er behielt die Frage für sich. Vielleicht hatte der Wunsch ja auch nichts mit ihm zu tun.
So lagen sie nun schweigend eine zeitlang nebeneinander, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Es gab so vieles, was er zu verarbeiten hatte.
„Stell mir eine Frage.“
Überrascht fuhr er hoch. „Hm?“
„Na los. Einen Wunsch werde ich dir nicht erfüllen, aber dafür eine Frage beantworten.“
Er überlegte und entschied sich für eine Frage, von der er hoffte, dass sie dir richtige sei. „Ist das Liebe?“
Ihr entfuhr ein amüsiertes Lachen. „Du bist mir einer!“ Und dann, etwas ernster: „Schon alleine für diese Frage könnte ich dich lieben.“
Er schmunzelte ebenfalls, denn er war dankbar für die Momente, die ihm mit diesem Menschen geschenkt worden waren. Er stellte fest, ja, wenn es so etwas wie Liebe tatsächlich gab, dann war seine Frage durch diese gerade erlebten Momente beantwortet worden. Er nahm ihre Hand und drückte sie sanft.
Sie erwiderte den Druck, doch ein Schleier von Traurigkeit zog über ihr Gesicht, als sie fragte: „Wie lange noch?“
„Was meinst du?“
„Du weißt schon.“
„Schon noch etwas ...“ Er wiederholte seine Bitte, ließ sie wie eine Forderung klingen: „Komm mit mir.“
Sie setzte sich erst auf, kniete sich dann neben ihn, während sie seine Hand immer noch hielt. „Du weißt doch viel besser als ich, dass das nicht geht. Du wirst wieder weggehen von hier, und ich werde dich auch nicht bitten zu bleiben. Bitte du mich nicht, mit dir zu gehen. Das wäre nur egoistisch, sowohl als auch. Wir würden nicht in die Welt des anderen passen.“
Melodramatik und Romantik waren zwei Dinge, die sich wundervoll in dieser Frau ergänzten. Das musste er immer wieder feststellen. Dafür war er ihr restlos verfallen, für diese Gefühle, die ihm so unbekannt waren.
„Du hast Recht.“ Er erhob sich ebenfalls auf seine Knie, nahm nun auch ihre zweite Hand. „Es ist besser so.“ Verlegen sah er von ihr weg, den Hügel entlang bis zur Waldgrenze. „Es wird Zeit.“
„Ich weiß.“ Noch einmal glitten ihre zarten Finger über seine Brust, über den Anzug, den er trug. Befremdlich war das Gefühl dieses unbekannten Stoffes an ihrer Haut, aber nicht unangenehm. Sie seufzte tief. „Sag mir deinen Namen.“
„Du würdest ihn nicht verstehen.“
„Trotzdem.“
„Gut.“ Er nannte ihn ihr. Zweimal. Noch einmal. Letztlich ließ er es bleiben, nachdem ihre Verwirrung immer größer geworden war.
Gespielt indigniert funkelte sie ihn an, ergänzte jedoch in einem versöhnlichen Tonfall: „Mein Name ist Lisa.“ Mit ihrer gekonnt schäkernden Art fügte sie hinzu: „Und für mich bist du der Mann aus den Sternen.“
Behutsam löste er sich von ihr. „Ich muss jetzt gehen.“
„Warte.“ Mit einem Griff um ihren schlanken Hals löste sie ihre Halskette, die als Anhänger einen Schutzengel aufwies. „Zur Erinnerung an mich.“
Fragend sah er sie an.
„Naja, das ist so Brauch bei uns, wenn man einen geliebten Menschen für sehr lange Zeit nicht wieder sehen wird.“
Er nickte verständnisvoll und nahm das Geschenk entgegen, war dann allerdings etwas ratlos. Er begutachtete sich selbst einen Moment lang, griff dann hinauf auf seine Schulter, riss sein Abzeichen ab und überreichte es ihr.
„Warte, ich helf dir.“ Sie beugte sich vor, um ihm beim Anlegen der Kette behilflich zu sein. Als sich ihre Gesichter so näherten, kam es zu einem letzten, flüchtigen Kuss.
Er umgriff den Schutzengel, ohne seine Bedeutung zu kennen, und drückte ihn gegen seine Brust. „Ich werde die Erinnerung an dich immer nah an meinem Herzen tragen.“
Sie dankte es ihm mit einem umfassenden Lächeln, das ihre Augen funkeln ließ. „Von dort, wo du hinfliegst, wirst du mir wohl keine Ansichtskarten schicken können, oder?“
Da er nicht wusste, was eine Ansichtskarte war, konnte er die Frage ruhigen Gewissens verneinen. Zum letzten Mal drückte er ihre Hand, ehe er aufstand und in Richtung des Waldrandes losging, wohl wissend, dass er nie wiederkehren würde.
Er sah nicht zurück.
Sie blieb noch eine Weile in der angenehm kühlen Nachtluft sitzen und fragte sich, warum die besten Männer für sie immer unerreichbar sein mussten. Sein Rangabzeichen, offensichtlich eine Legierung aus verschiedenen, bunten Metallen, hielt sie hoch und versuchte, die darauf abgebildete Sternenkonstellation mit den ihr bekannten zu vergleichen. Allein, der Versuch blieb ergebnislos.
Mit leerem Herzen und unerfüllten Träumen machte sie sich wieder auf zu den ihren. Einzig das Emblem, das sie fortan als Anstecknadel benutzen sollte, erinnerte sie stets an die Wahrhaftigkeit ihrer Bekanntschaft mit dem Mann aus den Sternen.

"Einfach so" ist Siffer Adrian Merguhls Bemühen, das Thema abseits der zu erwartenden Klischees, die ihm oft angelastet werden, darzustellen. Schließlich, wenn man die Frage nach ET als beantwortet ansieht, wird man erkennen, dass sich seine Bedürfnisse, Ängste und Hoffnungen gar nicht so sehr von den unsrigen unterscheiden werden.


Siffer Adrian Merguhl - die Person ist real, der Name ist Kryptonym.
Seit mehr als drei Jahrzehnten nennt er diese Welt die seine. Zu schreiben begann er aus der Überzeugung heraus, es besser zu können als all die in der Geschichte verstreuten Literaten und Belletristen. Seine private wie auch seine berufliche Entwicklung wirkte jedoch seinem Bestreben entgegen, dies auch zu beweisen.