Leumond
September 2004

Der Nebel


Heiko Sonnleitner-Seegmüller



Wissen sie, vor einigen tausend Jahren wusste man, dass die Sterne Götter sind. Vor einigen hundert Jahren wussten die Menschen, dass die Erde eine Scheibe ist. Und bis vor einer Woche wusste ich noch dass ...
Ja, es ist zum heutigen Tag genau eine Woche her. Ich fuhr mit meinem Fahrzeug auf dieser nassen, rutschigen Landstraße. Die Nacht war schon lange über das Land gezogen, so dass die Dunkelheit mein Auto umgarnte und nur das Licht der Scheinwerfer mir, wenn auch nur geringe, Sicht auf die Straße bot. Im Kegel meiner Lichter zogen die Bäume dieses Waldes in einem schnellen Tempo an mir vorbei. Das Radio spielte irgendwelche Melodien und ließ mich auf diese Weise die Einsamkeit und diese unerträgliche, fast rauschende Stille vergessen, die überall gegenwärtig war. Die Heizung meines Fahrzeuges blies warme Luft in meinen Raum und dennoch spürte ich die Kälte der Angst in mir. Eine Angst, die ich schon immer in der Dunkelheit empfand. Immer wieder glaubte ich beim Blick in den Rückspiegel eine Person zu sehen; eine geisterhafte Person auf meinem Rücksitz. Und so hielt ich auf meinem Weg mehrmals an, um mich zu überzeugen, alleine zu sein.
Es war wohl eine kindliche Angst die mich diese Personen sehen ließ. Ich kann mich an keinen Zeitpunkt in meinem Leben erinnern, an dem ich diese Angst nicht gehabt hätte und immer wieder tauchten Personen vor meinem Auge auf, die es nicht wirklich gab und gibt. Schatten, die mich bedrohen und mich beobachten. Nachts, in der Dunkelheit, wenn ich alleine bin. Mein Verstand sagt mir, es kann nicht sein; es gibt keine Geister, keine wandelnden toten Personen, die Lebende beobachten. Doch was ist der Verstand eines Menschen verglichen mit seinen Ängsten? Und eben in dieser Nacht erlebte ich diese Angst; wie unzählige male vorher.
Irgendwann, ich kann mich nicht mehr daran erinnern wie lange ich bereits gefahren war, hielt ich wieder einmal an um mich davon zu überzeugen, dass mein Rücksitz leer war. Als ich mich wieder der Straße zuwandte und weiterfahren wollte, erschien es mir, als huschte eine Person über die Straße. Im Licht meiner Scheinwerfer konnte ich deutlich eine Gestalt erkennen, die nicht sehr groß war. Diese Gestalt schien aufrecht zu laufen. Alles an diesem unbekannten Wesen erinnerte an ein Kind. Ein Kind inmitten dieser Wildnis. Viele Kilometer entfernt von der nächsten Stadt, vom nächsten Dorf, vom nächsten Menschen. Hatte es sich verlaufen? War es ein Opfer?
Vielleicht suchten die Eltern bereits seit Stunden nach ihrem Kind. Voller Verzweiflung liefen sie durch die Straßen ihrer Stadt. Immer wieder riefen sie seinen Namen. Angst und Verzweiflung machte sich in den Eingeweiden dieser Menschen breit. Hoffnungslosigkeit fesselte die Gedanken.
„Und wie fühlt sich dieses Kind?“, waren meine Gedanken.
Ich stellte mir vor, wie dieses unschuldige Wesen durch den Wald rannte; seinem Peiniger entkommen war. Jedes Auto, jeder kleinste Lichtstrahl ließ seinen Atem stocken, seinen Körper erzittern. Die Gedanken mussten gelähmt sein. Das Kind irrte umher, ziellos. Immer in der Hoffnung die rettenden Häuser einer Stadt zu finden. Fremde Geräusche krochen in seine Ohren und seine Schritte wurden immer schneller und schneller. Doch es war zu dunkel und seine Beine streiften das Gehölz auf dem Boden. Immer wieder fiel sein schmächtiger Körper auf den Boden. Doch die übermächtige Angst betäubte die Schmerzen und noch ehe er das Gefühl wahrnahm war es auch schon wieder in den Abgründen der Angst verborgen.
Ich musste etwas tun. Ich konnte dieses Kind nicht alleine in diesem Wald lassen. Alleine in der Finsternis; kein Trost; keine wärmenden Arme, die Arme der Mutter.
Doch meine Angst war zunächst unüberwindbar. Ich konnte nicht aus diesem Fahrzeug aussteigen. Noch immer verfolgten mich in meinen Gedanken die Seelen verstorbener. Hektisch schaute ich im Auto umher. Meine Blicke streiften über das Mobiltelefon. Meine Hand erfasste es, ich wollte wählen. Bald würde Hilfe kommen; sie würden das Kind finden, ihm helfen. Kein Netz.
Ich warf das Telefon auf den Beifahrersitz. Meine Hand ergriff die Tür. Es gab nur diese Möglichkeit. Ich musste in den Wald, nur so konnte ich diesem Kind helfen. Ich musste es alleine finden. Ich musste meine Angst besiegen.
Ich schloss die Augen, öffnete die Tür. Alles um mich herum war rauschend still. Nur mein Atmen kroch in meine Ohren. Ich zitterte. Weniger vor Kälte. Es war die Angst, die sich nun beinahe in die Unerträglichkeit steigerte. Ich lief los. Ich wurde schneller. Ich lief in den Wald hinein. Immer weiter und weiter. Schneller und schneller wurden meine Beine. Ich rannte. Das tote Holz auf dem Waldboden krachte unter meinen Beinen. Immer wieder wandte ich mich um. Überall schienen sich Schatten um mich zu versammeln. Doch meine Sorge um dieses Kind wuchs und verdrängte die Angst immer mehr.
„Ich will nach Hause“, erklang es leise hinter mir. Ich erschrak. Für Momente stockte mir der Atem. Ein unkontrollierbares Zittern überkam mich. Ich blieb stehen.
„Bitte bring mich nach Hause“, erklang nochmals die kindliche Stimme.
Ich wandte mich um. Traurige Augen; die Augen eines Kindes starrten mich an. Der junge Körper stand einfach da und schien auf eine Antwort zu warten.
„Du hast Angst oder?“, fragte ich.
Für einen Moment blieb es still um uns herum. Meine Angst verflüchtigte sich. Der Junge gab mir Sicherheit und ließ mich meine Angst vergessen. Ich war nicht mehr alleine und langsam verschwanden auch die Schatten, die Geburten meiner Fantasie.
Der fremde Junge nickte kurz.
„Ich bring’ dich Heim“, erklang meine Stimme abermals. Dann gab ich ihm meine Hand, die er bereitwillig ergriff. Wir liefen den Weg zurück auf dem wir gekommen waren.
Ich habe dieses Kind auf dem Weg zum Auto nicht gefragt, warum er nicht angehalten hatte und warum er weiter in den Wald gerannt war. Ich habe ihn nicht einmal gefragt, warum er in diesem Wald umher geirrt ist oder was passiert war. Wichtig war nur diesen Jungen wieder mit seinen Eltern zu vereinen. Vielleicht dachte ich, ich könnte ihm seine Angst nehmen, wenn ich diese Fragen nicht stellte.
Hand in Hand liefen wir, ohne ein Wort zu sagen, zurück zu der Straße, auf der noch immer mein Auto stand. Noch immer beleuchteten die Scheinwerfer den grauen Asphalt.
Wir stiegen ein. Der Junge ließ seine Blicke interessiert umher schweifen. Er begann den Radio anzufassen und ihn näher zu untersuchen. Er starrte auf die beleuchteten Armaturen. Er beobachtete das Lenken und Schalten. Alles an seinen Blicken erschien mir neugierig. Als habe er noch niemals zuvor ein Fahrzeug gesehen. Alles was ich tat schien ihn zu interessieren. Es waren weniger die Augen eines Kindes als vielmehr die Augen eines Forschers, die mich beobachteten und jede meiner Bewegungen aufmerksam verfolgten. Hin und wieder gab er mir Anweisungen in welche Richtung ich fahren sollte und so machte er nicht den Eindruck, als habe er sich verlaufen. Gleichfalls fuhren wir nicht aus dem Wald heraus. Es war vielmehr so, dass wir asphaltierte Waldwege benutzten.
„Bist du sicher dass wir hier richtig sind“, fragte ich unsicher.
„Wir sind gleich da“, entgegnete der Junge.
Um das Auto herum stieg Nebel auf.
Wir fuhren noch einige Minuten in diesem Wald umher. Je weiter wir in den Wald fuhren, desto dichter wurde der Nebel.
Irgendwann konnte ich ein hohes Gebäude erkennen, das sich inmitten dieses Waldes erhob und von diesem Nebel verdeckt wurde. Wir fuhren immer weiter auf diese Umrisse zu, die man durch den Nebel nur schwach erkennen konnte.
„Du kannst anhalten“, sprach der Junge neben mir.
Vorsichtig trat ich auf die Bremse; bis das Auto stand. Für einen Moment blieben wir wortlos nebeneinander sitzen. Wir starrten auf das Ding, von dem wir noch immer nur die Umrisse erkennen konnten. Ich war unsicher. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass in dieser Gegend jemand wohnte. Hier inmitten des Waldes. Woher sollte der Strom kommen? Woher das Wasser? Viel zu weit waren die nächsten bewohnten Gegenden entfernt.
„Wohnst du hier?“, fragte ich.
Das Kind starrte einfach nur auf die Umrisse inmitten des Nebels. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich wohne hier nicht. Ich wohne nirgendwo.“
„Du musst doch ein Zuhause haben“, erklärte ich überrascht.
„Nicht hier“, gab der Junge sanft zurück. Dann ergriff er die Tür und öffnete diese.
Ich wollte sein Aussteigen verhindern, ihn ergreifen. Doch meine Reaktion war zu langsam. Ich schaffte es nicht. Ich öffnete die Tür, stieg aus. Der Junge war schon einige Meter auf dieses Gebilde zugelaufen. Ich wollte ihm nachrennen.
„Bleib stehen“, rief der Junge.
Ein Schlag. Als war ich gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Ich fiel auf den Boden. Meine Augen suchten nach diesem Jungen. Eine Gestalt tauchte im Nebel auf. Kam näher. Stand vor mir.
„Danke dass sie mir meinen Sohn zurückgebracht haben“, sagte die Gestalt die nun vor mir stand. „Wir waren lange genug hier und müssen gehen. Er hat es nicht eingesehen und ist abgehauen.“ Die Stimme klang kühl und monoton.
Meine Sinne waren verwirrt. Was hatte dieser Mann mir gesagt? Was hat er gemeint?
Der Mann wandte sich von mir ab und nahm den Jungen an der Hand. Woher sollte ich wissen, wer dieser Mann war? Ich stand auf. Mein Körper schmerzte und noch immer war ich leicht benommen. Ich wollte ihn aufhalten, doch nach einem Schritt war es wieder, als rannte ich gegen eine unsichtbare Mauer. Ich fiel zu Boden. Ich blieb liegen. Wortlos und in einer tiefen Ohnmacht in meinen Handlungen blieb ich liegen und sah die beiden Personen, die in dem dichten Nebel nur noch Umrisse waren. Sie verschwanden in dem Gebilde.
Der Nebel verschwand. Als wurde er von diesem Gebilde aufgesaugt. Ein silbern glänzendes Dreieck tauchte vor meinen Augen auf. Metallisch. Ohne dass eine Lichtquelle dieses Ding beleuchtet hätte, schien es Licht zu reflektieren. Dieses Ding hatte keine Fenster. Ich konnte sehen, dass es auf einer großen Lichtung stand, die es vollständig ausfüllte. Mein Atem stockte. Meine Augen konnten dieses metallische Etwas nicht loslassen. Wieder begann ich zu zittern. Minutenlang starrte ich dieses Ding an. Meine Gedanken kreisten, ich versuchte eine logische und natürliche Erklärung zu finden.
Dieses metallische Gebilde hob vom Boden ab, schwebte. Lautlos; hoch Während ich diesem Ding nachsah, konnte ich irgendwelche Zeichen auf der Unterseite erkennen. Vielleicht eine Schrift; eine fremde Schrift. Vielleicht auch nicht. Mein Herz begann zu rasen. Meine Gedanken flüchteten sich in die Leere. Ich drehte mich auf den Rücken. Angst beherrschte mein Handeln.
Dieses dreieckige Ding schien in der Luft zu schweben. Es glänzte; ohne erkennbare Lichtquelle. Meine Augen wurden weit. Doch Angst verspürte ich in diesem Augenblick nicht. Ich weiß nicht warum; ich fühlte mich geborgen und mit diesem Stück Metall vertraut.
Nach einigen Minuten hörte ich nur noch ein schwaches Summen. Plötzlich war es verschwunden. Es war einfach nicht mehr da. In Bruchteilen einer Sekunde war es verschwunden.
Ich lag noch einige Stunden in diesem Wald und starrte in den Himmel. Bis die Sonne den Tag erhellte. Ich suchte noch lange nach Spuren im Gras dieser Lichtung, doch ich konnte nichts finden.
Als ich wieder in mein Auto einstieg, sah ich auf den Beifahrersitz. An jene Stelle, an der noch vor einigen Stunden dieses Kind saß. Dort lag ein Stück Metall. Es sah ähnlich aus, wie das Metall, aus dem dieses fliegende Etwas war. Ich nahm es vom Sitz, ich hielt es in meiner Hand. Ich weiß nicht wie es geschah, plötzlich erschien ein Hologramm in der Luft. Ein Hologramm der Erde, dann das Hologramm unseres Sonnensystems, dann einer ferner Galaxie.
Seit einer Woche sitze ich nun schon vor diesem Ding und versuche mein Leben neu zu ordnen. Ich habe in meinem Leben eine neue Straße genommen, von der ich nicht weiß, wohin sie führt. Und wieder fühle ich mich wie damals als Kind, denn ich bemerke, dass ich nichts weiß. Nichts von der Welt, nichts von ....

Ich mag keine Geschichten, die sich immer wieder an die gleichen, alten Regeln halten. Schreiben ist ein Ausdruck der Persönlichkeit und Stile und stilistische Mittel sollten dem Autor eigen sein. In meinen Geschichten versuche ich den Leser in die Situation der Handlung zu versetzen. Ich selbst sehe das Geschriebene vor meinem „Inneren Auge“ und bin mitten in der Geschichte. Manchmal ertappe ich mich, wie ich mich ängstlich umsehe wenn ich schreibe, manchmal freue ich mich mit meinen Figuren. Meine Figuren sind auch nie geradelinig. Sie sind nie berechenbar und wechseln oftmals sehr schnell ihren Charakter, so wie dies auch bei einem realen Menschen der Fall ist. Die Figuren haben nur eine ganz grobe Richtung.
An ein bestimmtes Genre halte ich mich nicht und oftmals passen meine Geschichten nicht in eine bestimmte Sparte.
Worauf ich Wert lege? Meine Geschichten müssen etwas aussagen. Sie müssen eine gewisse Tiefe haben. Egal ob ich gerade Horror oder eine Liebesgeschichte schreibe. Sie müssen eine gewisse Tiefe besitzen.
Was ich hasse? Verlage die Einheitsbrei produzieren. Das kommt leider viel zu oft vor.