Leumond
Mai 2004

Der Baum


Mathies Gräske



Gestern waren wieder Baummeister da. Sie haben den Zombiebaum repariert und mit einem neuen Halteband versehen. Dieses Band ist leider notwendig, denn sonst würde der Baum auseinanderfallen. Einst wurde der unsägliche Baum von einem Blitz getroffen, sodass dieser fast vollständig in der Mitte gespalten wurde.
Wie schon so oft wurden in der kleinen Gemeinde, zu der auch ich gehöre, Kritik an dem Baum laut. Ein neuer soll gepflanzt werden. Der schreckliche Baum erschrecke die Kinder und Besucher der Kirche, die sich gleich daneben befindet.
Die Forderungen stoßen jedoch immer auf taube Ohren. Und dies hat auch einen Grund. Irgendetwas ist an dem Baum eigenartig. Obwohl er alt und abschreckend wirkt hat er etwas, das ihn wichtig und unentbehrlich macht. Niemand kann genau beschreiben, wodurch sich diese Qualität ergibt, doch wenn man sich dem Baum nähert spürt man das Besondere. Desto näher man ihm kommt, umso mehr dringt etwas in die Seele. Es fühlt sich an wie ein Sternenhimmel und hängt nicht von der Tageszeit ab. Der Baum scheint Leute aufzusaugen.
Doch nun hat der Oberbürgermeister des Städchens beschlossen dem Spuk ein Ende zu machen: Der Baum muss endlich weichen. Ein junger, schöner Baum soll an dessen Stelle stehen und die Leute erfreuen, anstatt sie fortzujagen. Es wäre gut für den Tourismus der Gemeinde. Gerade die Kirche, eines der ältesten Gebäude der Gegend, sei eine kleine Attraktion und dürfe nicht durch egoistische Absichten alter Schwätzer in seiner "Bekanntwerdung behindert" werden, wie er schriftlich mitteilte.
Und der Bürgermeister schien es eilig zu haben. Schon heute kamen die Baummeister wieder vorbei, um den Baum zu entwurzeln. Einige Schaulustige waren ebenfalls vor Ort, um dem verhältnismäßig aufwendigen Spektakel beizuwohnen.
"Gehen Sie bitte beiseite!", pflegte einer der zwei Baummeister leicht genervt zu sagen, wenn sich ein paar Schaulustige etwas zu nahe heranwagten.
Zuerst sollten die Äste abgesägt werden. Das einfache Herausreißen und mitnehmen, wie einige Kinder es vorschlugen, war nicht möglich. Der Baum war zu widerspenstig und das Unternehmen zu gefährlich für die Zuschauer und die angrenzende Kirche.
Also begann das Sägen - bevorzugt mit der Kettensäge. Die Sonne schien. Es war warm und frühlingshaft. Da der Baum groß und sperrig war nahm der Sägerei viel Zeit in Anspruch. Einige Zuschauer verließen nach ein paar Minuten das Schlachtfeld.
Umso besser, denn bald darauf begann es zu regnen. Erst nieselte es ein wenig, dann regnete, hagelte und stürmte es. Als die letzte Stufe erreicht war, wollten die Baummeister ihr Werk bereits abbrechen. Doch sie wurden noch rechtzeitig mit den Ästen fertig. Morgen würde es weiter gehen.
Auch ich ging nach Hause und widmete mich meinem Hobby, dem Flötespielen. Gegen abend schaltete ich den Fernseher an, nur um festellen zu müssen, dass im ganzen Land Regen und Unwetter herrschte. Der Metereologe staunte selbst über seinen wenig schlüssigen Wetterbericht und die wenig heiteren Aussichten, die zu erwarten waren. Wie aus dem Nichts seien die Wolken heute gekommen und würden auch in den nächsten Tagen das Wetter kontinuierlich beeinflussen.

Auch heute ist das Wetter nicht gerade akzeptabel. Aber ich bin nicht aus Zucker und will das Baummassaker bis zum Ende miterleben. Die Baummeister waren auch schon eingetroffen und sägten an dem Baum herum. Doch auf ihren Gesichtern war nicht die übliche Alltagsmiene zu erkennen. Irgendetwas schien sie zu beunruhigen. Und es schien mit dem Baum zusammenzuhängen.
"He, Sie!" rief ich. "Alles klar bei Ihnen da oben?"
Die Baummeister schauten sich kurz an und dann fing einer von beiden an.
"Naja. Der Baum ist etwas unheimlich!" rief er. Ich verstand ich aber kaum, da gerade eine heftige Böe vorbeizog.
"Machen Sie doch eine Pause!" schlug ich vor. Das ließen sich die Arbeiter nicht zweimal sagen und kamen von ihrer Tribüne herunter, um sich auf eine wettergeschützte Bank zu setzen.
"Der Baum ist echt unheimlich..." begann der größere von beiden nach einer Weile.
"Irgendwie hat man das Gefühl als würde man... Dem Kosmos näher kommen." Peinlich berührt senkte der Meister den Kopf und wartete, dass jemand ihn einen Narren nennen würde, doch Ähnliches war mir und dem Kollegen auch in den Sinn gekommen.
"Und... Naja. Es scheint immer stärker zu werden, desto länger wir an dem Baum arbeiten", stellte er weiter fest. "Wenn das schlimmer wird will ich nicht an diesem Baum weiterarbeiten. Das ist mir zu unheimlich - auch wenn ich nicht abergläubisch bin."
Nach einer kurzen Pause erwiderte der andere: "Ich glaube aber nicht, dass es soweit kommt, oder?" und zwang sich ein falsches Lächeln ab. Dann gingen sie wieder zum Baum und machten vorsichtig weiter. Doch sie schienen kaum voranzukommen. Am Ende des Tages kam ich nochmal an der Kirche vorbei und erkundigte mich nach dem Stand der Dinge. Es hatte natürlich nicht aufgehört zu regnen und die Baummeister waren kaum vorangekommen. Gerade hatten sie beschlossen, den Baum von seinem Halteband zu befreien, um sich die Arbeit etwas zu erleichtern. Als sie das Band entfernt hatten neigten sich die beiden Teile, aus denen der Baum nun bestand in zwei entgegengesetzte Richtungen. Es hatte etwas surrealistischen, diese Szene zu beobachten.
Und gerade als ich nach Hause kam, schien draußen die Hölle aufzubrechen. Ein Ungewitter war hereingebrochen und Blitze durchschnitten unregelmäßig den Himmel. Bereits wenige Stunden später waren erste Todesopfer zu beklagen. Nicht nur hier und in diesem Land, sondern auch in Nachbarländern. Eine mysteriöse, untypische Sturmfront zog über den Kontinent. Sogar von ein paar kleineren Erdbeben war die Rede.
In dieser Nacht schlief ich sehr schlecht. Nicht nur das Gewitter machte mir Sorgen, sondern auch die Träume, die ich hatte. Mir schien es, als wenn ich von meinem neuen Bildschirmschoner träumen würde. Dieser Schoner bestand aus einer automatischen Reise durch das Weltall und begann bei der Erde, um beim Pluto zu enden. Allerdings gingen im Traum die Planeten, an denen ich gerade vorbeiflog, in Explosionen unter. Am nächsten Morgen wollte ich wieder zum Baum, aber die Straßen glichen Schlachtfeldern. Überall waren Bäume entwurzelt und Autos beschädigt worden. Mein Nachbar erblickte mich und lief auf mich zu: "Wissen Sie was, Herr Nachbar! Mein Auto ist schrott! So ein verdammter Baum ist einfach raufgefallen und hat ihn unter sich begraben. Und warum muss sowas immer mir passieren!"
Trotz des Wortschwalls ging ich unbeirrt zur Kirche. Wegen des miserablen Wetters, das immer noch vorherrschte hatte ich mir eine Regenjacke angezogen. An der Kirche angekommen fand ich die zwei Baummeister auf der Bank vor, auf der wir zusammen gesessen hatten.
"Gibt es nichts zu arbeiten, meine Herren?"
"Doch, doch. Aber irgendwie... als wenn das Unwetter mit dem Baum zu tun hat. Desto mehr wir ihn zersägen, desto stärker wird der Regen. Wir sind nicht abergläubisch, aber das ist schon seltsam."
"Tja. Wenn das so ist", meinte ich, "hätte ich eine Idee. Binden Sie doch einfach noch einmal ein Band um den Baum, sodass er nicht in zwei Teile fällt. Wenn dann das Wetter besser wird wissen wir wohl, ob wir den Baum wirklich abholzen sollten."
"Klingt zwar komisch, aber wir probieren es."
Mit diesen Worten gingen die beiden ans Werk und flickten den Baum wieder etwas zusammen. Und schon am Nachmittag gab es wieder ein wenig Sonne. Im ganzen Land hatte sich das Wetter mit einem Schlag wieder erholt. Die Baummeister waren überrascht. Um zu sehen, ob das Ganze nicht dem Zufall zuzuschreiben sei nahmen sie das Band wieder ab. Wenige Stunden später war die Wetterlage wieder katastrophal.
Langsam begannen die Baummeister an den Zusammenhang zwischen Wetter und Baum zu glauben. Folgerichtig durfte der Baum also nicht abgeholzt werden. Doch wer würde diese Geschichte glauben. Zum Chef zu gehen und zu fragen, ob der Baum stehen beleiben dürfe, da sonst die Welt in Wasser aufgeht ist wohl kaum akzeptabel. Also baten sie mich den Auftraggeber zu finden und mit diesem zu reden - also mit dem Bürgermeister. Dieser ließ aber nicht einmal ein Gespräch zu. Keine Zeit. Um wenigstens etwas zu tun zögerten die Meister mit der Fertigstellung des Auftrags bis dieser von anderem Personal übernommen werden sollte.
Ein paar Tage darauf waren die beiden Baumsäger verschwunden und zwei neue Kollegen erschienen. Diese waren nicht halb so gesprächig wie ihre Vorgänger und wollten die Arbeit möglichst schnell beenden. In Windeseile nahmen sie das Band ab und begannen, den Baum schlicht zu fällen. Schon wenige Minuten nachdem sie begonnen hatten kam ein Sturm auf, der in dieser Gegend als einzigartig stark bezeichnet werden kann. Eine halbe Stunde später waren die neuen Kollegen völlig durchnässt und hatten kaum etwas geschafft.
"Dieses Wetter ist grausam. Und das gerade heute, wo alles schön schnell über die Bühne gehen soll. Hoffentlich hört es bald auf zu regnen." meinte einer der neuen.
"Wissen Sie was", meinte ich, "binden Sie doch einfach mal den Baum wieder zusammen. Dann wird das Wetter wieder besser."
"Wieso das denn. Reden Sie doch keinen Unsinn!"
"Machen Sie es einfach. Sie werden sehen."
"Also gut. Wenn es Sie glücklich macht... Aber wenn das Wetter nicht besser wird bezahlen Sie uns den Extraufwand!"
"Kein Problem."
Hämisch grinsend machten sich die beiden Baummeister an die Arbeit. Bald war der Baum wieder zusammengebunden. Fast sofort wurde es wieder sonnig. Der Regen ließ nach. Ungläubig schauten die Meister herüber. Dann nahmen sie das Band wieder weg und der Himmel brach wieder auf. Bedächtig legten sie das Band wieder um, stiegen nun vom Baum, verabschiedeten sich leise und fuhren fort, um nicht wiederzukommen. Ein paar Tage später bekam der Bürgermeister einen Anruf, demzufolge die Firma kein Interesse mehr daran habe die geforderten Arbeiten durchzuühren. Der Bürgermeister war erzürnt, aber letztlich war es ihm egal. Sollte der Baum stehen bleiben.

Ein paar Jahre später bin ich umgezogen. Ich wollte ein paar andere Teile des Landes zu Gesicht bekommen bevor ich sterbe. Mittlerweile ist der Baum, der das Wetter beeinflusst, ein Phänomen geworden. Viele Wissenschafttler haben begonnen, den Boden um den Baum herum zu analysieren und ihn auf Anomalien hin zu prüfen, doch bisher konnte nichts außer dem grundlegenden Zusammenhang festgestellt werden. Unglücklicherweise hat sich eine fundamentalistische Organisation gedacht, dass der Baum zu zerstören sei und hat diesen vor einer Woche in die Luft gejagt. Nach bisherigen Angaben sind dabei vier Millionen Menschen innerhalb weniger Sekunden gestorben. Scheinbar wie eine Donnerfaust ist ein Erdbeben auf die Erde gegangen, das den Boden im Radius von 1000 km um den Baum kräftig durchgeschüttelt hat. An der Küste kam es zu Überschwemmungen und zu Lande traten zahlreiche Flüsse über, da es taglelang regnete. Da ich mich in den Bergen befinde betraf mich vieles nicht. Trotzdem ist nicht bekannt, was es mit dem mysteriösen Baum auf sich hatte. Aber vielleicht gibt es noch andere Bäume wie diesen. Man muss sie nur finden.

Klicke auf diesen Text, um dir die Begleitmusik anzuhören, die zu dieser Geschichte entstand: baum.mp3 - 3,4 MByte.


Mathies, hauptberuflich als Programmierer tätig, wohnt seit ein paar Jahren mit seiner Lebensgefährtin in Bremen, werkelt regelmäßig am Leumond und verfasst von Zeit zu Zeit Texte.