Das Lächeln des Kormorans
Martin Janecke
Im Hintergrund das Kinderbett,
darüber ein Windspiel mit Mickey Maus und seinen Freunden.
darüber ein Windspiel mit Mickey Maus und seinen Freunden.
Ich verblüffe mich; die Frage steht im Raum: ist ein Zauberer ein Zauberer wenn er zaubern kann und doch nicht weiß wie, nicht wann... Schon ist sie nicht mehr da. Verschwinden lassen, mein unkontrollierbares, sonderbarstes Talent.
Ich bin allein. Ein Schreibtisch, Hefter liegen herum mit Ideen, die ich nicht zu halten vermag. Ein Kompaktwörterbuch um meine Gedanken in Sprache zu übersetzen. Ein Klammeraffe, um die Zusammenhänge zu wahren.
Im Papierkorb liegt ein Briefumschlag. Post aus Singapore. Im Internet hatte ich das Lächeln eines Kormorans ersteigert. Der Umschlag: leer, und ich kann nicht sagen, ob man mich veralberte oder ob ich für das Verschwinden Verantwortung trage. Ich werde es nicht reklamieren.
Mit zehn Jahren ging mir ein Zettel mit Lottozahlen verloren. Ich sollte für meinen Vater tippen, weil er in Brasilien Turbinen reparierte. Das war das erste Mal. Das verwirrende: Ich hielt ihn in der Hand. Fünf Minuten später, ich saß noch im selben Sessel, jemand zog den Abspann des Mickey Maus Klubs über den Bildschirm, war er weg. In keiner Ritze des Sessels, nicht auf dem Boden, nicht auf dem Tisch, nicht versunken in meinem Glas Cola. Aufgelöst in seine Elementarteilchen. Ich kreuzte irgendwelche Zahlen an, gewann 30 Mark.
Alles mögliche verschwand seitdem. Es gab gute Tage und schlechte, es gab gute Wochen und schlechte. Es ist unvorhersehbar.
Im September waren meine Frau und ich im vierten Monat, schwanger, schwer verliebt. Wir fuhren in den ersten gemeinsamen Urlaub, wir fuhren nach Norden an die See.
Ich löse eine Brausetablette in milchigem Wasser aus der Leitung auf. Kopfschmerzen. Mittlerweile verschwinden manchmal meine Erinnerungen. Ich schreibe sie auf, denn noch kommen sie wieder. Wie düstere Blitzlichter.
Wir badeten in der Sonne. Wir schwammen im Meer. Ich trat in eine Muschelschale. Marie wollte noch einen Moment im Wasser bleiben. Am Strand konnte ich unsere Handtücher und Sachen nicht ausmachen. Verunsicherung erblühte, dann fand ich sie genau vor mir.
"Du siehst den Wald vor Bäumen nicht", pflegte Marie mir ins Ohr zu pusten. Mein Fuß hatte aufgehört zu bluten, ein kleiner Schnitt. Ich packte mich zum Trocknen auf das Handtuch. Gegen das grelle Licht legte ich mir den Strohhut meiner Frau auf das Gesicht. Eine Sonnenblume, auf dem Weg von der Pension abgeknipst, steckte daran. Ich döste.
Eine halbe Stunde später, vielleicht, nahm ich den Hut vom Gesicht. Ich schaute mich um. Ich sah Marie nicht. Ich ging zum Wasser, ging zurück, ihr Sommerkleid, das Portemonaie, ihre Söckchen, Handy, Schlüpfer, der Fotoapparat, ihr Kamm, die Sonnenmilch: alles lag noch in der Plastiktüte, die Schuhe, das Handtuch, der Hut. Ich fragte Leute, ich rief Marie, rief die Polizei, ich suchte den Strand ab, den ganzen Tag, meine Haut brannte, meine Füße brannten, aufgeschnitten von zig Muscheln, in den Wunden das salzige Wasser, den ganzen Abend, die Nacht. Ich fand zu viele Spuren, zu viele, doch keine von Marie. Sie blieb verschollen.
Auf dem Südwestfriedhof hat sie ein leeres Grab. Ich war nicht da. Ich habe aufgehört sie zu suchen. Ich habe nicht aufgehört sie zu lieben, sie und unser kleines Baby. Es wäre einen Monat alt. Ich habe aufgehört mich an Menschen, Gegenstände oder Geschichten zu klammern. Ich habe nicht aufgehört, die Dinge verschwinden zu lassen. Ich habe aufgehört zu hoffen. Ich habe nicht aufgehört zu atmen. Ich habe aufgehört zu leben.