Abschiedsszene...
Birgit Paltram
Sie steht am Balkon des Hotels im 23. Stockwerk. Unter ihr fließt der Verkehr. Man sieht nur Lichter - rote Rückscheinwerfer die sich nahtlos aneinanderreihen. Beim Umschalten der Ampel setzt sich die Kolonne gleichmässig in Bewegung - man könnte denken sie hätten alle das selbe Ziel vor Augen. Das Hotel ein Gebäude aus Prunk und Luxus. Hier wird jeder wie ein König behandelt. Jeder Wunsch sofort erfüllt.
Regen prasselt in schweren Tropfen auf ihre nackten Schultern. Der Bademantel ist ein Stück herunter gerutscht - aber sie merkt es nicht. Spürt den hämmernden Schmerz nicht auf ihrer Haut. Das lange nasse Haar hängt in dicken Strähnen herab. Das Gesicht ist naß. Die Füße spüren den weichen feuchten Boden, auf dem sie stehen nicht. Nichts von alldem kriegt sie mit. Fast genau vor einem Jahr war sie auch hier. Um sich zu verkriechen, sich zu verstecken, einfach zu verschwinden. Nur nicht nach Hause müssen. Ein Jahr ist es schon her, daß sie verlassen wurde. Daß das Leben stehengeblieben ist und sich anderwo weitergedreht hat nur nicht hier bei ihr. Die Uhren tickten aber sie zeigten keine Gegenwart und keine Zukunft mehr an. Nur Vergangenheit an allen Ecken und Enden. Losgelöst von einer Zeit, in der man hoffte und bangte und plante und machte. Ein Jahr ist schon vergangen, in dem sie reagierte - automatisch wie sie es gelernt hat. Ein kaltes Jahr, in dem sie fast ständig mit dicken Pullovern und Jacke herumlief. Zur Arbeit und nach Hause, wie eine Maschine sich Nahrung genommen hat. Rechnungen bezahlte und mit den Eltern sprach. Keine Fragen und keine Antworten. Vielleicht hat man akzeptiert, daß sie immer mehr an Gewicht verlor. Ihre Augen sich im leeren Raum verloren. Kaum ein Lächeln und kein Lachen mehr in ihrem Gesicht zu finden war. Der Vater hatte sie einmal kurz zur Seite genommen und mit seiner tiefen Stimme ein paar beruhigende Worte zu ihr gesagt. Ihr gesagt, der Schmerz würde vorbeigehen, ein neues Leben beginnen. Doch die Worte hatten auch ihm gefehlt. Die Freunde riefen an und fragten und verstummten, weil es bald nichts mehr zu fragen gab. Der Tag, an dem sie ihr Leben begrub war ein strahlend blauer. Die Stadt begrüßte die ersten warmen Stunden des Jahres. Aus der Nähe hörte man kleine Jungen Fußball spielen und alte Leute nahmen ihre Plätze auf den Parkbänken zum ersten Mal in Beschlag. Die Menschen kamen aus ihren Häusern, um dieses Wunder nach einem langen kalten Winter zu begrüßen. Doch für sie ging der Sommer zu Ende, ohne daß er dagewesen wäre, und ein strahlender, rotgelber Herbst folgte. Sie spürte das Laub unter ihren Füßen - beneidete es wie es sich zum Sterben, zum Verschwinden auf den Boden senkte und in prachtvollem Gewand seinem Ende zuging. Wieviele Tage stand sie vor diesem Stein aus Marmor. Las die Inschrift immer wieder. Plötzlich aus dem Leben gerissen stand da. Aber das Leben war nicht abgerissen - nur ein Mensch fehlte. Nur einer und doch die ganze Welt. Ihre Stimme hörte sich fremd an, daher redete sie kaum noch. Die Leute um sie herum sprachen nun eine andere Sprache. Sie hörte Laute und Geräusche aber keine Inhalte. Ihr Körper mobilisierte ihre letzten Reserven, doch im Winter waren auch diese aufgebraucht. Medikamente und viel Schlaf sollten helfen. Es tat gut nicht mehr rausgehen zu müssen. Im Frühling brachte ihr Vater sie in die Klinik. Sie werden dir helfen wieder auf die Beine zu kommen, sagte er und sagten viele andere Leute. Die Ärzte lächelten ihr aufmunternd zu und die Schwestern kümmerten sich um sie wie um ein Kind. Man mochte sie, sie war so bescheiden. Aber von unfaßbarer Traurigkeit raunten sie sich auf den Gängen zu. Und dann hatte man sie entlassen mit vielen guten Ratschlägen und Umarmungen. Man hatte sie in ein Taxi gesetzt. Das Vorhaben geändert und hierher gefahren. 23 Stockwerke hoch steht sie oben - kaltes naßes Mauerwerk nun unter ihren Füßen. Ein Lächeln am Horizont und weit ausgestreckte Arme, die sie erwarten. Nur ein Schritt nach vorne und das Leben hat sie wieder...