Leumond
Dezember 2003

Geschenkt


Mathies Gräske



I


"Los, weg! ... Mann ist das voll hier... Aus dem Weg!!"
Wütend und entnervt bahnte sich Helmut seinen Weg durch die Massen. Heiligabend stand vor der Tür und die halbe Stadt schien einkaufen zu wollen. Und Helmut hatte kein Geschenk. Zuhause saßen drei Kinder und eine Frau und fragten sich bereits seit Tagen, was für Präsente sie bald in den Händen halten dürfen.
"Nun los! Geh doch mal, du %&&)$&!"
Sinnlos ließ er seinen Frust an den ebenfalls wenig amüsierten Passanten aus.
"Wenn ich mit meinem Auto hier wäre hätte ich euch schon alle über den Haufen gefahren!!!"
Jetzt hatte jemand, der ihn gehört hatte, genug:
"Was bilden Sie sich ein? Wir wollen alle Geschenke haben. Da müssen Sie sich schon gedulden!"
"Ach labere doch nicht, du Frosch! Wenn ihr nicht alle immer so blöd im Zickzack laufen würdet, käme ich ganz gut klar."
"Und Sie sind besser oder was? Ich glaube kaum, dass Sie immer genau wissen, wo Sie hinmüssen."
Bei den letzten Worten war ein Japaner, der gerade vorbeilief, hellhörig geworden.
"Was? Sie wissen wo ich hinmuss? Können Sie mir sagen wo ich... 'Damm' finde?"
"Ach geh zur Hölle! Ich bin kein Stadtplan!", erwiderte Helmut gereizt.
"Hah! Da haben wir ihn, unseren rechten Pöbel. Na macht's Spaß Ausländer zu schikanieren?", rief eine Stimme hinter Helmut.
"Mit Ihnen hat gar keiner geredet!", antwortete Helmuts erster Gesprächspartner.
"SIE halten sich da raus, Herr Nachbar. Sie reden sowieso viel, wenn der Tag lang ist."
"Aber bei weitem nicht soviel wie Sie, wenn Sie mit Frau Schlegel tratschen."
"Sie haben doch gar keine Ahnung. Halten Sie einfach den Rand und gehen Sie weiter. Ich hatte auch gar nicht vor mich mit IHNEN auseinanderzusetzen, sondern mit..."
In dem Moment wollte sie auf Helmut zeigen, doch der war schon verschwunden.
"Dieses blöde Volk.", raunte Helmut leise, und schlich weiter davon. Trotzdem hatte er heute wieder nichts passendes gefunden. Und er machte sich keine Illusionen. Ein paar Kleinigkeiten würde er schon finden, aber in den letzten Jahren hatte er scheinbar alles gekauft, was er kaufen konnte. Seine Kinder sollten wunschlos glücklich sein, nur seine Frau wollte seit Jahren ein spezielles Schmuckstück, das jedoch sein Budget bei Weitem sprengen würde. Sollte er etwa einen noch schnelleren PC für die beiden Söhne kaufen? Dabei hatte er ihnen erst vor zwei Monaten die neuesten Modelle gekauft. Und seine Tochter, die verhätschelte, hatte auch mehr, als sie jemals brauchen wird. Und Helmuts Frau konnte sich nur für Schmuck begeistern. Allerdings hatte auch sie schon alles, was man sich wünschen kann. Was also tun?
...

II


"Mach die Fliege... Los, los! Schneller!... Ich hab nicht ewig Zeit!"
Helmut war wieder unterwegs. Ein Tag trennte ihn von Heiligabend. Nervosität war sein ständiger Begleiter. In den letzten Jahre hatte er immer viel und gerne geschenkt. Und wenn er die Gesichter seiner Familie beim Geschenkesauspacken sah, war es ihm völlig egal, dass er vorher stundenlang die Innenstadt durchforstet hatte.
"Verdammt, verdammt... Verdammt!"
Keine glorreiche und vor allem passende Idee kam ihm in den Sinn. Sicher, man hätte kurzfristig verreisen können, aber das hatte er schon einmal versucht und war kläglich gescheitert. Oder ins Restaurant gehen und gut essen. Aber Helmuts Frau bestand darauf, das Essen selbst zuzubereiten. Gutscheine, Ausflüge, Oper, Besuch, ausgefallene Geschenke: Alles schon probiert.
...

"Was hast du denn, Helmut? Stimmt was nicht", fragte Irene, Helmuts Frau.
"Alles bestens. Ich hab bloß... keine Geschenke."
"Was? Das ist alles? Dann gibt es diesmal eben keine großen Geschenke."
"Und das macht dir nichts?"
"Ich hab doch alles. Was soll ich mir noch wünschen? Wenn ich etwas will, dann sage ich es schon."
"Na dann bin ich ja erleichtert. Ich hoffe, die Kinder kommen auch damit klar."
...

III


Es war endlich soweit. Die Tür ging auf. Alles war perfekt geschmückt. Lichterketten und Kerzen erleuchteten den Raum in angenehmen Licht. Mit grinsenden Gesichtern ging die Familie in das Zimmer. Doch schon auf halbem Wege wurde das angestimmte Weihnachtslied unterbrochen. Lilly, das 16-jährige Mädchen der Familie verstummte und schaute grimmig.
"Was soll das denn sein? Da bekommen ja all meine Freundinnen mehr in diesem Jahr. Was soll ich denen denn erzählen?"
"Aber du hast doch alles.", erwiderte Helmut.
"Jaja. Du bist bloß zu faul."
Mit diesen Worten ging Lilly aus dem Raum. Die beiden Söhne folgten, denn sie waren ähnlicher Meinung. Die Haltung de Vaters war unsozial. Wer nichts kauft ist langweilig.
"Hoffentlich hast du wenigstens ein wenig Geld, damit wir uns selbst was anständiges kaufen können!", schnauzte einer der Söhne, bevor alle Kinder das Zimmer verließen.
"Tja Schatz", meinte Irene, "das war wohl nichts. Hast du nun wenigstens etwas für mich? Deine Scherzerei gestern hat mir fast schon Angst gemacht."
"Aber Schatz! Das war die Wahrheit... Ich habe keine tollen, großen, sinnlosen Geschenke. Ihr braucht doch gar keine."
"Aha. So ist das also. Der Herr geht genüsslich einkaufen und seine Liebsten können sehen, wo sie bleiben. Toll. Also du bekommst heute bestimmt nichts zu essen!"
Entrüstet verließ sie den Raum und knallte die Tür unbarmherzig hinter sich zu. Helmut blieb allein zurück. Nur die Lichter brannten noch genauso freundlich wie zu Beginn dieses Abends.
"Was habe ich nur getan? All die Jahre haben wir nie einen echten Heiligabend gehabt... Ich dachte ich hätte immer das richtige getan..."
Betrübt saß Helmut noch lange Zeit im Zimmer und dachte über das Geschehene nach.

Mathies, hauptberuflich als Programmierer tätig, wohnt seit ein paar Jahren mit seiner Lebensgefährtin in Bremen, werkelt regelmäßig am Leumond und verfasst von Zeit zu Zeit Texte.