Herr und Frau Jonas (feat. Rudolf)
Mathies Gräske
Als Betrachter musste man sich schon fragen, was die beiden noch miteinander verband - Geschweige denn, warum sie überhaupt noch zusammen waren. Sie hatten sich im Laufe vieler Jahre Schritt für Schritt auseinandergelebt. So langsam, dass sie es selbst kaum merkten. Nur manchmal war einer von ihnen traurig, scheinbar wegen nichts, aber im Grunde war es die tiefverwurzelte Trennung. Andere hätten sich scheiden lassen, aber Herr und Frau Jonas blieben zusammen; "Es lohnt sich ja eh nicht mehr", hörte man vor allem den Mann sagen und seine Frau schüttelte resignierend den Kopf dazu. "Uns alte Leute will doch keiner!"
Das sollte klingen, als wenn sie kein Auge auf andere geworfen hätten. Frau Jonas hatte es vier Mal mit einem Seitensprung probiert, der Herr nur dreimal. Aber nie war einer der beiden stark genug, sich aus dem tristen Alltag der Scheinliebe zu erheben und einen Neuanfang zu wagen.
Doch dann kam Frau Jonas Geburtstag - der 50. Und plötzlich änderte sich Einiges. Die Mid- und Quarterlifecrisis war ihr bisher erspart geblieben, denn sie erfreute sich langanhaltender Gesundheit. Doch nun musste auch sie einsehen, dass ihr Leben vielleicht auch irgendwann ein Ende haben dürfte. Diese Einsicht jagte ihr einen bleibenden Schreck ein, fast einem Trauma gleich anhaltend. Schwitzend und zitternd wachte sie nun des Öfteren nachts auf und wurde häufiger krank. Erst in dieser Situation wurde ihre Misslage völlig offensichtlich: Sie war allein. Und daran konnten ihre falschen Freundinnen, mehrere Haustiere und ein gleichgültiger Ehemann nichts ändern. Mit liebloser Sorgsamkeit mühte sich Herr Jonas um eine bessere Stimmung, aber sein Gerede war wie eine alte Kassette, die man nicht mehr hören mochte. Es schien geradezu, dass selbst Herr Jonas seinem Gerede nicht zuhörte, gefangen in dem ewigen Rollenspiel mit seiner Frau.
Und über Monologe ging die Beziehung auch nicht hinaus. Körperlichkeiten hatte man größtenteils eingestellt. Wenn es zu Gesprächen hätte kommen können war der Fernseher, das Internet und zur Not auch die Waschmaschine interessanter als der Partner.
Nur manchmal kam das schlechte Gewissen. Die ehelichen Geschäfte mussten leidigerweise und leidenschaftslos ausgeführt werden. Dabei kam es zu "überraschenden" Restaurantbesuchen (natürlich immer beim gleichen Inder) und äußerst stimmungsgeladenen Kleinstfeiern mit Leuten, die man besser hätte ignorieren sollen. Damals, als sie noch Studenten waren, hatten diese Treffen einen besonderen Reiz. Die anderen Frauen mit Namen, die wie Zeitschriften klangen, waren geistig aktiv und ließen nichts aus. Jetzt hingegen waren sie alt, einige sogar verstorben und jeder Tatendrang verloren gegangen. Und jene, die sich nicht treiben lassen wollten, waren längst gegangen, wurden Tierschützer, Lehrer oder erfolgreich und verließen den Klub der toten Seelen.
Dies alles wurde Frau Jonas plötzlich bewusst und sie beschloss zu handeln. Nach außen hin gab sie sich wie sonst auch, aber sie begann, Dinge zu ändern, die sie nicht mochte. Anfangs fiel es ihr schwer, Unterschiede zwischen dem Gewollten und Ungewollten zu entdecken, aber schon bald fielen ihr mehr und mehr Details auf - im Zentrum der apathische, lebensentfremdete Ehemann. Alles, was sie störte, schien sich um ihn zu drehen. Er war Anfang und Ende.
Am besten konnte sie erkennen, was sie tun musste, wenn sie im Fitnessstudio war. Auch diese Gewohnheit war eine neue und ungewohnte. Viele fremde Menschen, Aufgeschlossenheit und vor allem gutaussehende Trainer waren ein Ansporn, das Studio immer wieder aufzusuchen.
Während ihres vierten Besuches lernte sie Rudolf kennen. Auch er war nicht mehr der jüngste und wurde selten vom Glück heimgesucht. Um über den Tod seiner vor einigen Jahren verstorbenen Frau hinwegzukommen war er ins Fitnessstudio gewechselt und verwandelte seinen Frust in Muskeln. Genau diese brauchte er auch kurze Zeit später, denn Frau Jonas hatte viele Jahre ohne erotische Momente aushalten müssen. Daheim hieß es nur, dass ihr Strickzirkel nun in eine sehr intensive, vor allem zeitintensive Phase eingetaucht sei.
Herrn Jonas regte dies nur wenig zum Nachdenken an, denn wenn sie redete, war er meistens mit "Wichtigerem" beschäftigt. Onlinebanking, Chat, Fernseher. Und wenn die Frau nicht da war, scheute er keine Mühen und Kosten, um die Telefonrechnung dank 0190 und Internet - Dialern drastisch zu erhöhen und somit seine Vergessensleistung bezüglich seiner Frau zu steigern.
So hätte er auch beinahe nicht bemerkt, wie sich Frau Jonas von ihm trennte. Selbst als sie ihm gegenübersaß, mit gewichtiger Miene und Schweiß auf den Handflächen, um ihm von der neuen Liebschaft zu erzählen, war er abwesend. Erst als das Wort "umziehen" fiel, wurde er stutzig. "Umziehen? Wer? Wohin?". Frau Jonas wiederholte, was sie zuvor bereits einmal gesagt hatte. Sie ziehe um, weil ein besserer und schönerer Mann auf sie warte, und dass ihre Ehe zum Scheitern verurteilt sei. Eigentlich könne man sogar glücklich sein, dass es so gekommen ist, meinte sie. Etwas erstaunt blinzelte Herr Jonas. Dann schaute er verwirrt in die Zeitung, in der er gerade etwas über teure Scheidungen gelesen hatte, blickte wieder zu seiner Frau hinüber und widmete ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit.
Zum dritten Mal begann sie mit der Geschichte von der einsamen Ehefrau, doch er realisierte nun, was geschehen sein musste. Allerdings hatte er nicht die Weise Vorraussicht, die seine Frau ursächlich in die Arme eines anderen getrieben hatte und so tangierte es ihn wenig. Ausnahmsweise ließ er sich seine echte Emotion - wenn man das so nennen kann - anmerken, blieb ruhig sitzen und folgtedem Gefühlsausbruch seiner Frau.
Dann verschwand sie. Nicht auf einmal, aber mit Hast. Und nun spürte Herr Jonas seine Einsamkeit. All seine erlernten Muster waren nicht mehr anwendbar und überflüssig. Es war niemand da, den er ignorieren konnte. Bald darauf konnte er nichts mehr mit sich anfangen, das Nichts wurde durch Leere ersetzt. Das sah auch sein Arbeitgeber so und feuerte ihn, sodass er nun viel Zeit zum Nachdenken hatte.
Da er keine Freunde oder Bekannte hatte, die sich freiwillig um ihn kümmern wollten, verbrachte er viel Zeit daheim und fiel in ein schwarzes Loch. Wie seine Frau bemerkte er jedoch bald, dass sein schwarzes Leben wohl auch bald ein Ende finden würde. In diesem Moment war ihm jedoch noch nicht klar, wie bald das sein würde. Wenige Wochen später war seine Moral derart untergraben, dass er sich in einem Anfall von Kaltblütigkeit eine geladene Waffe an den Kopf hielt und abdrückte. Der Zustand, den er annehmen würde erschien ihm erstrebenswerter als der alte.
Seine Leiche wurde erst einige Wochen später entdeckt. Frau Jonas hatte einen minderwichtigen Gegenstand im Haus liegengelassen und wollte sich außerdem am Leid ihres verlassenen Ehemanns ergötzen. Sie hatte im Geiste bereits einige Gespräche mit ihrem Mann geführt, in denen sie ihm seine erbärmliche frauenlose Situation vor Augen geführt hatte.
Als sie aber die Wohnung betrat sah sie ihren Mann auf dem Küchenboden liegen, als wenn er bereits viele unangenehme Gespräche geführt hätte. Der Geruch verriet ihr, dass ihr Mann wohl nicht mehr unter den Lebenden weilte, sodass sie nur noch den Bestatter anrufen konnte.
Dann hastete sie eiligst aus der Wohnung und rannte ziellos umher. Sicherlich wäre sie lange durch die Straßen geeilt, wenn ein Auto sie nicht abrupt davon abgehalten hätte. Ein VW erwischte sie und brach ihr beide Beine. Der Fahrer des Autos war der Polizei bereits wohlbekannt und die Farbe des VWs - rot - war dementsprechend kein Zufall.
Der Aufenthalt im Krankenhaus ergab, dass sie nie wieder laufen könne. Mit 50 sind Unfälle bereits eine ernste Sache. Frau Jonas Geliebter, der sich bisher rührend um sie gekümmert hatte, wurde nach dieser Nachricht etwas nachdenklich und begann immer wieder von "Altersheim" und "Sie werden gut auf dich aufpassen", obwohl er doch sonst immer von "In den warmen Süden, egal was passiert" gesprochen hatte. Auch die guten Rosen mussten den Imitaten weichen; die Besuche wurden seltener. Es schien ihr sogar einmal, als sie aus dem Fenster schaute, dass ihr Rudolf Hand in Hand mit einer anderen die Straße entlang ging, so wie er es einst mit ihr tat.
Enttäuscht zog sie sich in sich zurück - und keinen interessierte es. Wenn sie vor ihrem Unfall alt aussah, so war sie nun bald scheintot. Ihre Freude war dem früheren Zustand der Apathie gewichen. So ließ sie auch alles mit sich geschehen: Altersheim, Bingo und Schlimmeres. Bald war ihr Zustand vergleichbar mit dem ihres Mannes, nur dass sie etwa 20 Jahre zu früh mit dem Leben aufgehört hatte. Welche Schande. Als es dann tatsächlich an ihr war, das Reich der Lebenden zu verlassen, war ihr einziger Gedanke, dass es besser gewesen wäre mit 30 an einem Herzinfarkt wegen zuvieler Glückshormone, als mit 60 an Krebs zu sterben. Also nahm sie letztlich all ihr Geld, fuhr in den warmen Süden, lud sich einige gutbezahlte Nekrophile und Leute, die ihr einst etwas bedeutet hatten, zu sich ein und feierte ihre letzten Tage wie einst zu Studienzeiten.
So fand sie zumindest ein wenig Frieden und wachte nach einer langen, glücklichen und vor allem alkoholhaltigen Nacht nicht mehr auf.
Mathies, hauptberuflich als Programmierer tätig, wohnt seit ein paar Jahren mit seiner Lebensgefährtin in Bremen, werkelt regelmäßig am Leumond und verfasst von Zeit zu Zeit Texte.