Martin Janecke
Das war der Tag an dem ich Anne zum ersten Mal unter dem Geigerzähler fand. Die Sonne flutete fast waagerecht in das Wohnzimmer um für die Nacht im weichen Flaum ihres Bauches zu ruhen. Sie lag auf dem Rücken, auf dem Bett. Ihren Pullover hatte sie hochgeschoben. Auf der nackten Gänsehaut hielt sie einen kleinen grauen Apparat. Es tickte.
"Was machst du?", fragte ich.
"Es hat sich verändert", sagte sie.
"Wieso? Was machst du?"
"Es hat sich verändert", sagte sie.
"Wieso? Machst du das öfter?", fragte ich.
"Hörst du das?", fragte sie.
"Ja. Woher hast du das Ding?", fragte ich.
"Von der Versteigerung."
"Bei der BVG?"
"Ja."
"Wer lässt denn einen Geigerzähler in der U-Bahn liegen?"
"Keine Ahnung... Sie wussten, glaub ich, nicht was es ist. Sie haben es als Taktgeber verkauft."
"Aber es läuft nicht im Takt."
"Deshalb hab ich kaum was bezahlt."
Ich machte ein paar Schritte, fuhr ihr langsam durch die Haare. Sie sah mich. Ich sah das graue Kästchen ticken.
"Es steht aber Geigerzähler darauf."
"Du musst mir nicht glauben", sagte sie und ich glaubte, "komm her. Zieh dich aus", sagte sie und lächelte. Ich hängte meinen Mantel weg. Ich zog den Pullover über den Kopf. Knistern. Ticken. Ich knöpfte das Hemd auf und kam zurück, beugte mich über Anne, küsste ihre Stirn, ihre Nase. Sie führte den Geigerzähler an meinen Bauch. Ich fühlte ihn an meinem Bauch. An ihren. An meinen. An meinem. An ihren. An meinen. An meinem.
"Was meinst du?", fragte Anne.
"Genauso", sagte ich.
"Genauso", sagte Anne, "bei dir ist es genau wie bei den anderen."
"Bei wem hast du das denn schon gemacht?"
"Ich, gar nicht. Bei Tom."
"Tom-dein-Vater oder Tom-dein-Neffe?"
"Tom-dein-Neffe-in-spe", sagte Anne.
"Und was hat er gesagt?"
"Du nimmst das nicht ernst", sagte Anne und ich lachte. Sie legte sich den Geigerzähler wieder auf den Bauch. Ich ging in die Küche. Das Ticken verschwand schon im Hintergrund meiner Welt.
Der nächste Tag brachte nichts Neues.
"Vielleicht sind das die Pampelmusen, die du immer isst", sagte ich.
"Du nimmst das nicht ernst", sagte Anne und ich lächelte.
Am Tag darauf schien die untergehende Sonne nicht mehr in das Fenster.
"Anne?", sagte ich, "schalt ihn bitte aus. Du verstörst noch den Goldfisch."
"Du nimmst das nicht ernst", sagte Anne und ich zuckte mit den Schultern.
Am nächsten Tag ging ich gleich hinüber zum Bett. Ich griff nach dem Geigerzähler aber Anne umklammerte ihn fest.
"Hast du ihm schon einen Namen gegeben?"
"Warum nimmst du das nicht ernst, Martin?", fragte mich Anne.
Oder hatte sie "Warum nimmst du mich nicht ernst" gefragt?
"Du bekommst ihn gleich wieder."
Sie lockerte ihren Griff. Ich schob ihn unter meine Jacke.
"Ich höre keinen Unterschied", sagte ich.
"Doch, doch! Bei mir ist es anders. Es tickt schneller. Hörst du das nicht?"
Ich brauchte einen Moment, um zu merken, dass dies keine rhetorische Frage war... "Nein."
"Es ist schon im Übergang", sagte Anne in sich gekehrt.
"Anne, in was für einem Übergang? Was redest du?"
"Es wird regelmäßig. Das Chaos, es beginnt sich zu ordnen."
Der Geigerzähler lag wieder auf ihrem Bauch. Ich hörte keine Ordnung. In mir stieg etwas auf. Das war Angst.
"Ich höre das nicht!"
"Du bist ja auch ein Mann", sagte Anne und drehte sich auf die Seite. Mit ihrem Rücken zu mir.
Nacht. In meinem Traum tickte es. Ich wollte entkommen und wachte auf. Es tickte. Anne weinte leise.
Den ganzen Nachmittag durchstreifte ich Berlin auf der Suche nach einem anderen Geigerzähler. Wichtig war mir nur eine Digitalanzeige und die absolute Angabe der Strahlung. Kein Ticken. Ich investierte ein kleines Vermögen.
Es war dunkel, als ich nach Hause kam. Ich drehte den Schlüssel im Schloss, schon zog Anne die Tür auf und umarmte mich fest. Im Schlafzimmer tickte es.
"Entschuldige", sagte ich.
Anne war total verspannt.
"Ich hab dir etwas mitgebracht", sagte ich.
"Was?", fragte sie.
"Ein Strahlungsmessgerät."
"Warum?
...
Verstehst du denn nicht?
Ich hasse ihn, ich wünschte, ich hätte ihn nie ersteigert."
"Ach-so?"
"Ich hasse ihn. Er macht mein Leben kaputt. Er macht unser Leben kaputt."
"Dann mache ich ihn kaputt", sagte ich.
Anne ließ ihre Schultern fallen.
"Du verstehst nichts", sagte sie.
"Soll ich ihn..."
"Nein."
"Dann, versuch den."
Anne nahm ihn und ging in das Schlafzimmer. Ich folgte ihr. Anne schloss die Tür und ich stand draußen. Das Ticken verstummte. Eine halbe Stunde später kam sie mit dem neuen gelben Geigerzähler, wie auf einen Gameboy fixiert, heraus, stieß in der Küche gegen mich, schob ihn mir unter das Hemd.
"Und?"
"Du strahlst unerheblich mehr", sagte Sie.
"Siehst du, es ist alles gut.", sagte ich erleichtert. Anne zwang sich zu einem Lächeln und ging zurück ins Schlafzimmer. Ich folgte ihr.
"Er zeigt automatisch an, wann du an dieser Strahlung stirbst", sagte sie.
"Und, wie lange hab ich noch zu leben?"
"Ewig", sagte sie und lachte. Es war ein wunderschönes Lachen. Dinge, die man nicht kennt, sind meist sehr schön.
"Lass uns für eine Woche wegfahren", sagte ich, "ziellos, wir fliegen irgendwo hin. Egal. Wo der nächste Flug hingeht. Patagonien, Siebenbürgen, Hawaii. Es gibt eine Menge Teile der Erde, wo wir noch nicht waren."
"Dich möchte ich mal auf einem Surfbrett sehen", sagte sie.
"Meinetwegen", sagte ich, "wenn es dich zum Lachen bringt."
"Ich kann nicht", sagte sie, "Montag habe ich einen Termin beim Arzt."
"Ist doch egal."
"Nein Martin, es ist wichtig. Es geht nicht", sagte Sie.
Ich wollte mit ihr schlafen. Sie wollte nicht. Seit Tagen.
Nacht. In meinem Traum tickte es. Ich wollte entkommen und wachte auf. Es tickte. Anne weinte leise.
Wir fuhren über das Wochende zu Annes Eltern an die Küste. Ohne Telefon und ohne Geigerzähler. Das Meer heilte die Seele, die Briese den Körper.
Als Anne am Montag vom Arzt wiederkam, hatte sie Krebs.
Tom Langrock gewidmet