Leumond
August 2003

Die Wolke


Mathies Gräske



Vor nicht allzu langer Zeit gab es eine kleine Wolke, die sich direkt über der Nordsee gebildet hatte und Richtung Küste zog. Schon kurz nach ihrer Entstehung wurde sie von einem Matrosen gesichtet.
Warum er nun diese Wolke entdeckt hatte schien ihm etwas befremdlich, denn sie sah den anderen Wolken am Himmel zum Verwechseln ähnlich. Nur ein winziges Detail, das er nicht ausmachen konnte, ließ ihm die kleine Wolke interessant erscheinen.
Jedes Mal, wenn er sich seine Wolke anschaute überkamen ihn Sehnsucht, Traurigkeit und Freude nahezu gleichzeitig.
Und so stand er trotz einer scharfen Brise wann immer er konnte an Deck und beobachtete den Himmel.

Nach zwei Tagen des Glücks kam es zu Problemen. Zum Einen begann die Wolke einen anderen Kurs als das Schiff einzuschlagen und wurde immer kleiner - nur minimal, aber für den Liebhaber auffallend. Eine Weile konnte der Matrose diesen Zustand ertragen, doch schon bald wollte er der Wolke folgen, um sie weiter beobachten zu können. Nur wie sollte er dies tun? Auf seinem Schiff war er nur Matrose ohne Rechte und vor allem ohne Befugnis, den Kurs zu wechseln.
Nichtsdestotrotz begab er sich zum Kapitän und fragte ihn um Erlaubnis.
"Ahh. Mein Junge. Wie kann man denn in eine lausige Wolke vernarrt sein? Das ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert. Und warum sollte ich gerade dieser Wolke hinterherfahren und nicht irgendeiner anderen?!"
"Na ja... So genau... Es ist halt meine ganz spezielle Wolke. Wenn ich sie sehe, dann..."
"Papperlapapp! Meine Junge, du solltest auf den Boden der Tatsachen zurückkehren und dir solche Dummheiten aus dem Kopf schlagen. Oder noch besser: Geh zu einem Psychiater und lass dir von dem deine Flausen austreiben!"
Tief gekränkt verließ der Matrose die Kapitänskajüte und begab sich wieder auf Deck, wo seine Wolke auf ihn wartete.
"Eigentlich hat er nicht ganz unrecht, der Kapitän", dachte sich der Matrose. "Aber was kann ich dafür, dass mir diese Wolke so gefällt...Es ist mein Schicksal, dieser Wolke zu folgen und zu sehen, wie es ihr bis zu ihrem Ende geht."
Dann hatte er mit einem Mal die rettende Idee. Er konnte eines der Rettungsboote nehmen und seiner Wolke hinterherfahren. Endlich würde er sie bis zu ihrem Verschwinden verfolgen können.
So blieb er bis spät in der Nacht auf, schlich in die Küche, um Lebensmittel für seine Reise zu sammeln, und dann zu einem Rettungsboot mit Motor, den er aber nur in Notfällen benutzen wollte. Schnell und leise ruderte er vom Schiff weg und folgte dem Kurs der Wolke anhand eines Kompasses, den er immer bei sich trug.

Er hatte gut vorgesorgt und so konnte der Matrose der Wolke lange Zeit folgen. Immer wieder überkamen ihn Zweifel an seinem Tun, aber jedes Mal versicherte er sich, dass er das Richtige im Sinn hatte und es nichts zu Bereuen gäbe. Indes wurde die kleine Wolke immer kleiner. Tag für Tag schwand sie - erst langsam, und als sie eine gewisse Größe unterschritten hatte immer schneller. Noch immer war das Interesse des Matrosen ungebrochen, auch wenn er sich langsam Gedanken machte, was er nach "Der Wolke" machen sollte. Bei seiner alten Mannschaft war er sicher nicht mehr gern gesehen. Vielleicht war es auch eine gute Idee, den Beruf zu wechseln; einen Beruf zu ergreifen, der ihn immer in die Nähe von Wolken und anderen Naturerscheinungen bringen würde. Die Idee gefiel ihm nicht schlecht und so folgte er der mittlerweile winzigen Wolke mit noch mehr Enthusiasmus.
Schon war die Küste in Sicht als sich aus heiterem, sonnigen Himmel ein Unwetter zusammenbraute. Die kleine Wolke wurde praktisch zerrissen und vom Sturm aufgesogen, so wie das Herz des Matrosen, der hilflos zuschauen musste. So schnell hatte er nicht mit dem Ende seiner Wolke gerechnet.
Was er jedoch auch nicht voraussehen konnte war das Ausmaß des Sturms. Unbarmherzig wurde seine kleine Nussschale vom Wind und dem Wellengang gebeutelt, bis es nachgab und den Matrosen in das kalte Nordseewasser entließ.
"Nun muss ich mit meiner Wolke untergehen... ?", dachte sich der Matrose, bevor das Wasser sich seiner vollends bemächtigte. Von Wellen getragen gelangte er bewusstlos an die Küste, die er zuvor bereits erblickt hatte.
Das Schicksal hatte es gut mit ihm gemeint und sein Leben verschont. Im Gegensatz dazu hatte sich der Sturm erbarmungslos über das Schiff seiner ehemaligen Mannschaft hergemacht und niemanden lebend entrinnen lassen.
Einerseits glücklich sein Leben und seine kuriosen Studien fortführen zu können und andererseits traurig wegen dem unglückseligen Ende seiner Mannschaft begab er sich auf neue Reisen und folgte der einen oder anderen Erscheinung, niemals vergessend wie alles begonnen hatte.

Mathies, hauptberuflich als Programmierer tätig, wohnt seit ein paar Jahren mit seiner Lebensgefährtin in Bremen, werkelt regelmäßig am Leumond und verfasst von Zeit zu Zeit Texte.