Leumond
Oktober 2003

Zeit heilt alle Wunden?


Mathies Gräske



Prolog



"Eigentlich geht es uns doch richtig gut, nicht wahr, Qudo?"
"Ja, mein Schatz. Es geht uns prächtig. Ganz toll."
"Aber Liebling, bedrückt dich etwas? Geht es dir nicht gut? Liebst du mich nicht mehr?"
"Was, wieso? Wie kommst du darauf? Ich... mag dich so wie du bist, ganz ehrlich."
"Wieso bist du dann heute so komisch?"
"Ach, nichts..."
"'Ach nichts?' Was soll das heiß... "
"Ich muß jetzt weiter machen. Es wartet noch viel Arbeit."

I



Gemächlich erhob sich Qudo von seinem Hocker und begab sich zum nahe gelegenen Blumenbeet, wo er vor wenigen Stunden angefangen hatte, neue Keime zu sähen, die sich im Herbst in regelrecht frühlingshafte Blumen verwandeln würden. Aber die Arbeit machte ihm keinen Spaß. Sie war so eintönig. Alles war so eintönig. Im letzten Jahr war es angenehmer gewesen. Und außerdem hatte er Kiruso mehr geliebt. Zumindest schien es ihm so. Sie war plötzlich so langweilig. Sie war andauernd besorgt und schien oft Angst zu haben, daß er sie verlassen könnte. Wie abwegig. Die einzigen Menschen auf dieser Insel waren er, Kiruso, John und Nibai. John und Nibai waren wie Feuer und Wasser, während Qudo schon seit Jahren mit Kiruso zusammen war. Es gab noch einen Stamm Eingeborener, die völlig ehrfürchtig waren und Qudo als ihren Hauptgott verehrten, weil er als erster die Insel betreten hatte. Die Badjis, wie sie sich selbst nannten, waren dunkelhäutig und hatten niemals zuvor weißhäutige Menschen gesehen. Alles, was Qudo befahl, taten die Badjis - ohne jegliche Einwände.

Mittlerweile war es dunkel. Qudo begab sich ins Haus. Kiruso, mit der er an diesem Nachmittag kein Wort gewechselt hatte, unterhielt sich seit Stunden mit Nibai. Dem Plausch schien sobald kein Ende gesetzt zu werden, soviel stand fest. Und das, obwohl sie sich nach 300 Jahren auf dieser Insel doch mittlerweile alles gesagt haben dürften. Und allzu viel Spannendes geschah auf dieser Insel wahrlich nicht. Weiber. Qudo war wütend. Wie konnten sie es wagen, sich angeregt zu unterhalten, während er einsam im Haus sitzen mußte? Sie hätten ihn auch wenigstens einmal am Beet besuchen können. Aber lieber nicht beschweren. Er kannte die elenden Streitgespräche. "Du hättest genauso gut zu uns kommen können, du Langweiler!" Dann wär ihm wieder der Hut geplatzt, und er hätte sich am Meer bei einer Runde Joggen abreagiert.
Aber heute hatte er keine Lust auf Joggen. Es war alles einfach nur langweilig. Er konnte sich zu nichts aufraffen. Erst spät abends, nachdem er viele Stunden vor sich hingedöst hatte, machte er sich auf, um den Anführer der Badjis, Kebdo, zu besuchen.

Kebdo hatte zu tun. Ja, wirklich. Der Diener konnte sich vor Scham kaum retten. Da kommt doch tatsächlich ein Gott in Mannesgestalt vorbei und Kebdo hat keine Zeit. Der Diener, Sklavus mit Namen, war trotz seiner dunklen Hautfarbe rot angelaufen und machte hektische Bewegungen. Er wiederholte ununterbrochen "Ich bin untröstlich, ich bin untröstlich, bitte nicht hauen, bitte nicht." Bald wurde sein Gesicht dunkelrot und er ächzte. Er war völlig fertig. "Kannst du mir noch einmal verzeihen, oh großer Qudo?" Qudo rührte sich noch immer nicht und schaute umher, ob er Kebdo irgendwo erblicken könne.
Sklavus war nun am Ende. Mit letzter Kraft zog er sein rituelles Selbstmordmesser hervor und wollte zum letzten Stoß ansetzten. Erst jetzt erkannte Qudo die Lage des Dieners und besänftigte ihn.
"Ich verzeihe dir, Sklavus. Nimm jetzt das verdammte Messer 'runter!"
"Wie ihr wollt, oh Qudo!", schnaufte Sklavus sichtlich erleichtert.
"Mann, was hier alles so rumläuft! Ich gehe besser, bevor sich der ganze Stamm ausrottet."

Aber Sklavus' Verhalten bewirkte etwas in Qudo. Ein eigenartige Lust stieg in ihm hoch. Tod. Aber nicht für ihn. Was würde Kiruso sagen, wenn ihr geliebter Qudo sie mit sechs Messerstichen ins Jenseits befördern würde? Wowwww! Ihm graute ein wenig, aber ganz angenehm. Gute Idee! Aber, oh mein Gott, was hatte er eben gedacht. Das war doch nicht Qudo. Kiruso töten? Die Frau, die er vielleicht liebte. Nein, wie abwegig!

II



Es war dunkel. Bestimmt zwei Uhr morgens oder noch früher. Qudo konnte nicht mehr schlafen. Ihm graute. Er machte die Nachttischlampe neben seinem Bett an. Kiruso lag neben ihm im Bett und regte sich nicht. Sie schlief tief und fest. Ihre Haare waren zerzaust. Und das, obwohl sie soviel Wert darauf legte, daß ihre Haare gut aussahen. Sie schmückte ihre Haare oftmals mit Perlen oder mit kleinen Blüten. Es sah wirklich sehr hübsch aus. Aber jetzt waren die Haare zerzaust.
Er kannte sie jetzt schon 310 Jahre und trotzdem hatte er das Gefühl, daß er sich immer mehr von ihr entfernte. Sie schien so unnahbar. Irgendwie haßte er das. Er haßte sie, ihre positive Ausstrahlung, ihr Temperament, ihre Ordnungsliebe, irgendwie alles. Das mußte ein Ende haben. Sofort.

Eilig schritt er aus dem Zimmer, holte ein scharfes Messer aus der Küche und kam zurück. Als er das Zimmer betrat, hatte Kiruso sich bereits aufgerappelt und saß mit verschlafenem Blick im Doppelbett.
"Was ist mit dir, Qudo? Kannst du nicht schlafen?"
"Doch, sicher."
"Dann komm doch zurück zu mir - ins Bett."
"Aber ich will gar nicht. Ich muß jetzt etwas.."
"Hast du Sorgen, Qudo. Erzähl mir davon. Ich höre dir gerne zu, Qudo."
"Ich..ich...Ich will nicht. Ich..kann dich nicht mehr leiden.", sagte Qudo mit beleidigtem Unterton.
Ein Schatten huschte über Kirusos verschlafenes Gesicht.
"Aber ich will dir doch nur helfen! Nun erzähl schon!"
"Nein, ich hasse dich. Laß mich in Ruhe!"
Er war nun beleidigt. Sie behandelte ihn wie ein Kind - oder zumindest kam es ihm so vor. Seine Hand griff fester um das Messer.
"Was hast du da in deiner Hand, Qudo?"
"Nichts! Gar nichts!", warf ihr Qudo gereizt zu. "Aber doch, ich sehe es doch ganz genau!"
Haha, wenn sie sehen würde, was er in der Hand hätte, würde sie jetzt nicht so verdammt dämlich und allwissend grinsen. Sie hielt sich für so besonders schlau. Dem würde er jetzt ein Ende setzten. Tod.

Er kam auf ihr Bett zu und grinste - grinste diabolisch.
"Liebling, was ist mit dir? Du..du schaust so komisch?"
"Ach... tue ich das? Wie schlau!"
Kiruso wurde langsam blaß. Sie war nun fast völlig wach. Nur der verschlafene Ausdruck in ihren Augen blieb. Eigentlich war sie ja ganz niedlich, so ängstlich. Was für ein Anblick. Sie war 340 Jahre alt, und trotzdem sah sie wie eine Schülerin aus. John betonte das fast jeden Tag: "Ach schau doch, Qudo. Sie sieht so frisch aus, wie eine Schülerin!".
"Ach, schau doch Qudo!", äffte Qudo nach. John war als Nächster dran. Bestimmt. Aber jetzt erst einmal Kiruso. Er wollte sie leiden sehen. Leiden, leiden und noch einmal leiden. Sie war jetzt fällig. Wütend schluckte er jegliches Bedenken hinunter.

"Qudo, jetzt sag mir doch endlich, was mit dir ist!" Sorgenfurchen zogen sich über Kirusos Gesicht. Entsetzliche Sorgenfalten. Wann hatte er sie das letzte Mal so beunruhigt gesehen? Vor 50 Jahren, vielleicht 70? Ihm wurde plötzlich ein wenig mulmig. Seine Knie wurden weich. Qudos sadistisches Lächeln wurde instabil. Doch er rappelte sich auf. Er hatte sich etwas vorgenommen. Diesmal wollte er konsequent sein. Nicht im letzten Moment kneifen. Doch noch sah sie das Messer nicht. Er konnte zurück. Aber nein. Jetzt gab es kein Zurück. Er kam an das Bett heran, stellte sich direkt vor Kiruso und schaute ihr direkt in die Augen, die mittlerweile leicht verängstigt schauten.
"Habe ich dir eigentlich gesagt, daß ich dich unheimlich hasse, Kiruso, mein Schatz?"
Anstatt zu antworten, wurden die Sorgenfalten noch tiefer. Ihre Augen nahmen einen traurigen Ausdruck an. Sie sah so verdammt hübsch aus, selbst mit dem zerzausten Haar und dem traurigen Ausdruck in den Augen. Warum war ihm das nicht schon vor Tagen aufgefallen? Hatte er es einfach vergessen?
Im selben Moment mußte er an ihr Kennenlernen denken. Damals war er noch ein normaler Sterblicher gewesen. Sie hatten beide in einem sonnendurchfluteten Atelier in einer Großstadt gearbeitet und sich zufällig kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Damals hatte sie ähnlich ausgesehen wie jetzt. Sie hatte gerade ihre Kunstprüfung zu bestehen und stand sehr unter Spannung. Qudo hatte versucht, ihr die Zeit vor der Prüfung so angenehm wie möglich zu gestalten, und hatte sie so oft wie möglich aufgeheitert. Mit der Zeit verliebte sie sich auch in ihn und sie wurden ein Paar. Zur Hochzeit wollten sie auf eine Insel fahren, was auch geschah. Das einzige Problem war die Insel, von der sie von nun an, zusammen mit John und Nibai, zwei anderen Kunststudenten, nicht herunter kamen. Auch die Zeit schien wie angehalten. So wurden sie tatsächlich über 300 Jahre alt. Aber nun war Schluß. Keine weiteren Sentimentalitäten! Er würde jetzt zur Tat schreiten.

Gerade wollte er, rot angelaufen und mit verwirrtem Ausdruck auf dem Gesicht, das Messer hervorholen, als Kiruso anfing zu weinen. Sie war die letzten Sekunden tapfer gewesen, aber konnte sich nun nicht mehr halten und schluchzte.
"Du magst mich nicht mehr, nicht wahr?", fragte Kiruso mit unsicherer Stimme und schaute Qudo tief in die Augen. Sie schien ihm regelrecht in die Seele schauen zu wollen.
"Schau mich nicht so an!", rief Qudo verzweifelt und übertrieben laut und wandte sich schnell zur Wand. Eine Träne lief ihm aus dem rechten Auge.
"Oh, jetzt... jetzt sehe ich, was du hast... Was willst du mit dem Messer. Doch nicht etwa... ". Sie fing erneut an zu schluchzen.
So hatte er sie noch nie erlebt. Sie war sonst so gefaßt und unnahbar. Und jetzt? Es tat ihm leid. Ihm tat alles leid. Er verfluchte sich innerlich. Aber jetzt machte es auch keinen Sinn mehr. Sie wußte alles. Ohne sich ihr zuzuwenden, erhob er das Messer, so wie Sklavus. Ohnehin kam er sich vor, wie Sklavus. Kiruso war seine Göttin, und... ach wie absurd.
Er holte aus. Doch bevor er das Messer in seine Brust stoßen konnte, kam Kiruso auf ihn zu: "Nein, Qudo!" Doch es war schon zu spät. Er hatte sich das Messer nicht in die Brust, sondern in den Bauch gerammt, als Kiruso geschrien hatte. Er sank zu Boden.

III



"Qudo, was machst du denn?" Sie warf sich neben ihm auf die Knie und untersuchte wimmernd seine Wunde.
"Es tut mir leid... Kiruso. Ich... Kannst du mir noch einmal verzeihen?"
Für einen Moment gewann sie ihre Fassung.
"Natürlich verzeihe ich dir", sagte sie, ohne zu zögern.
"Wußtest du schon, daß man bei Wunden im Magen erst nach einiger Zeit stirbt?"
Sie rang sich ein Lächeln ab.
"Ich bekomme dich schon ganz!", meinte Kiruso, und wischte sich Tränen aus dem Gesicht.
"Und wer soll mir helfen? Es gibt niemanden auf dieser Insel mit medizinischen Kenntnissen.."
"Aber es muß doch ein Möglichkeit geben! Es... "
"Nein, selbst die Badjis können nicht helfen."
"Dann... dann bleibe ich bei dir."
"Danke... "

Und so verbrachten beide die Nacht auf dem Boden des Schlafzimmers. Qudo wurde immer schwächer, und gegen Morgengrauen schien es dem Ende zuzugehen. Kiruso hatte Qudos Kopf in ihre Arme gelegt und redete ihm zu.
"Weißt du... du hast da... ", und er zeigte auf ihr Haar, "ein... graues... Haar... ".
Verwundert blickte Kiruso in den Spiegel. Abgesehen davon, daß sie mitgenommen aussah, hatte sie ein graues Haar bekommen.
"Aber wie kann das sein? Ich altere doch nicht!"
Qudo lächelte. "Vielleicht...?".
Kiruso warf einen Blick nach draußen. Irgend etwas war anders. Dann fiel es ihr auf: Die Insel war über Nacht aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht und die Zeit ging wieder in normalem Tempo weiter. Weitere Konsequenzen wurden ihr bewußt. Wenn die Insel wieder normal war, dann mußten sie auch von der Insel fliehen und Ärzte holen können. Nur wie?
"Qudo, wir müssen hier 'raus. Kannst du dich bewegen?"
Qudo gab keine Antwort. Ein Rinnsal Blut lief ihm aus dem Mund und trocknete an der Luft. "Qudo!", rief Kiruso verzweifelt, "Qudo, wach auf!"
Er wachte nicht auf.

Tränenüberströmt zog sie ihn nach draußen, wo die warme Morgensonne anfing, den Strand zu wärmen. Glücklicherweise waren sie in der Nähe des Wassers. Vielleicht könnten sie ein Boot finden und auf dem Meer treiben, bis jemand sie fände. Die Wahrscheinlichkeit gefunden zu werden, war jedoch nicht gerade sonderlich hoch. Sie war sogar ziemlich klein. Doch alles andere schien noch sinnloser. Die Insel hatte keinerlei Kommunikationsanlagen, keine Leuchtpistolen, keine Fischer, die sie zu einer größeren Insel bringen konnten. Einfach nichts.
Also entschloß sich Kiruso, ein Boot zu suchen. Irgendwann hatte sie bereits eines gefunden. Aber das war schon 230 Jahre her. Und sie hatte jetzt keine *Jahre* mehr Zeit, um ein Boot zu finden.
Sie bettete den sehr blassen Qudo auf eine Decke und suchte rennend nach dem Boot.
Wo war nur dieses verdammte Boot? Verzweiflung stieg in ihr auf. Wie sollte Kiruso innerhalb der nächsten Minuten das Boot finden. Es schien ihr aussichtslos. Doch wenn sie eines gelernt hatte, dann war es nicht aufzugeben. So schnell sie ihre Füße trugen, suchte sie weiter nach dem Boot. Doch so sehr sie versuchte, sich Mut zu machen - es wurde immer schwerer. Bald verließ sie die Hoffnung. Sie gab sich die Schuld, wenn Qudo nun sterben würde. Sie konnte nicht aufhören zu suchen. Nicht jetzt. Sie rannte weiter. Bald war sie um die ganze, nicht allzu große Insel herum gelaufen. Eine Stunde war vergangen, und kein Boot war in Sicht. Nur irgendein altes Flugzeug lag versteckt hinter einigen Bäumen.
Ein Flugzeug? Aber... wie konnte das sein? Erst dann fiel ihr ein, daß sie, Qudo, John und Nibai mit einem Flugzeug auf dieser Insel gelandet waren. Warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht? Peinlich. Schnell begab sie sich zum Doppeldecker und überprüfte ihn. Sie hatte früher ein paar Flugstunden genommen und kannte sich ein wenig aus. Bald stand fest, daß das Flugzeug flugfähig war. Schnell begab Kiruso sich zu Qudo und schleppte ihn zum Flugzeug. Als sie ihn ansah, wie er bewußtlos und aschgrau neben ihr im Flugzeug lag, kamen ihr erneut die Tränen. Würden sie es noch rechtzeitig schaffen? Oder war er schon... ? Sie wollte es nicht einmal denken. Hastig warf sie den Motor an und flog, den Strand als Startbahn benutzend, auf die See. Sie hatte keine Ahnung wohin sie flog. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, von woher sie damals gekommen waren. Also flog sie einfach nur. Doch diese Perspektivlosigkeit raubte ihre Nerven. Sie wußte nicht, ob Qudo noch lebte und ob sie es bis zur nächsten Insel schaffen würden. Die Sonne ging noch immer auf. Irgendwie machte ihr diese Tatsache Mut. Sie hatte das Gefühl, sie würden plötzlich schneller fliegen. Und außerdem, vielleicht würden sie es nun doch schaffen. Qudo war bestimmt noch nicht tot. Jetzt hatte Kiruso es doch gesagt - das Wort, vor dem sie sich gerade noch gefürchtet hatte.
Und tatsächlich. Nach einigen Minuten kam eine Insel in Sichtweite. Freude stieg in ihr auf. Sie fühlte plötzlich eine gewisse Dankbarkeit, obwohl im Moment noch kein Grund zum Feiern gegeben war.

Die Insel war die nächstgrößere in der Gegend. Es gab bereits eine kleine Stadt und ein Hospital. Und obwohl auf der Insel 300 Jahre vergangen waren, schien die Zeit auch hier stehengeblieben zu sein. Irgendwie schaffte es Kiruso, ohne bruchzulanden, auf die Insel zu gelangen. Freundliche Eingeborene kümmerten sich sofort um Qudo. Die Hoffnung, die sie während des Fluges begleitet hatte, war nun plötzlich verflogen. Erneut machte sich Angst in ihr breit. Er war jetzt schon sechs oder sieben Stunden verletzt. Inzwischen war jegliche Farbe aus Qudos Gesicht gewichen. Er mußte schnell in das Hospital.

Kiruso hatte viel Zeit zum Nachdenken, während die Ärzte Qudo behandelten. Sie saß in einem dieser sterilen Krankenhauskorridore, in denen es immer nach Desinfektionsmitteln roch. In Zeitlupe liefen die Ereignisse der letzten Stunden wieder und wieder vor ihren Augen ab. Wieso hatte Qudo sie umbringen wollen? Was war mit ihm geschehen, daß er so reagierte? War es allein ihre Schuld? Oder nur seine? Oder hatten beide Schuld? Die letzte Antwort schien auf Anhieb die vernünftigste. Doch allein diese Antwort reichte ihr nicht. Was genau war falsch gelaufen? In 300 Jahren kann so einiges fehlschlagen. Und - zugegeben - ihre Beziehung war nicht immer nur harmonisch verlaufen. Aber versuchter Mord! Irgend etwas mußte völlig in die falsche Richtung gegangen sein...Irgend etwas... Irgend etwas... Irgend etwas... Ihr wurde abwechselnd warm und kalt. Einerseits versuchte sie angestrengt eine Lösung zu finden, irgendeinen Ansatz. Anderseits war sie so müde und schwach, daß sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.
Bald darauf schlief sie mit sorgenvollem Ausdruck auf dem Gesicht ein.

IV



Als sie wieder aufwachte, hatte sich nichts geändert. Weiterhin fühlte Kiruso sich unwohl und schon sehr bald war sie wieder völlig in Gedanken versunken. Doch um so mehr sie versuchte, eine Lösung zu finden, desto mehr verschleierte sich alles. Langsam wurde sie immer nervöser, bald wütend. Hastig stand sie auf, um ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend zu vertreiben. Dann endlich kam der Arzt.
"Wie geht es ihm?", fragte sie monoton.
"Tja,... er hat sehr viel durchgemacht, in der letzten Nacht. Und, ähm, nun ja, es... " Kirusos Gesicht, das ohnehin schon blaß war, wurde noch einmal weißer.
"Was ist mit ihm, Doktor, nun sagen sie schon."
Sie war gereizt.
"Es... geht ihm den Umständen entsprechend... ganz gut. Aber er muß für die nächsten Tage im Hospital bleiben."
Kiruso war sichtlich verwirrt. Wieso hatte der Doktor so lange gebraucht, um diese, eigentlich positive, Botschaft mitzuteilen?
"Kann ich ihn jetzt besuchen?"
"Mhh... ich weiß nicht so recht. Wissen Sie, ähm, es ist so, daß,... "
"Ja oder Nein!"
"... Jein."
Langsam reichte es ihr. Sie war nun hellwach und war bereit, einiges zu geben, um Qudo zu sehen.
"In welchem Zimmer ist er?!"
"Mhh... "
"Auf welchem Zimmer ist er!!!".
Kiruso hielt sich nicht zurück.
"Gut, gut, Zimmer 12."
Sofort ging sie, die Warnungen des Doktors mißachtend zum Zimmer 12, das sich am Ende des Korridors befand.
Dort lag Qudo. Er sah schon sehr viel besser aus, als noch vor wenigen Stunden und schlief. Im selben Moment bereute sie, daß sie den Arzt verdächtigt hatte und wollte sich entschuldigen, doch dieser war aus Höflichkeit auf dem Korridor geblieben und so war sie mit Qudo allein. "Wie geht es dir, mein Schatz?", fragte sie, wohlwissend, daß er sie mit Sicherheit nicht hörte. Ihr war im Moment schon wieder zum Weinen zu Mute. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß sie Qudo, trotz allem was er getan hatte, und der langen Zeit, die sie auf der Insel verbracht hatten, noch immer liebte. Ihr war vorher nie bewußt, wie schnell solch eine Liebe zerstört werden konnte. Kiruso hoffte inständig, daß alles wieder gut werden würde. Daraufhin nahm sie einen Stuhl, der im Raum stand, plazierte ihn neben Qudos Bett und hielt seine Hand. Bald war sie wieder eingeschlafen - nur diesmal mit einem unbestimmten Gefühl der Hoffnung.

Ende

an alle Paare, die keine 300 Jahre Zeit haben


Mathies, hauptberuflich als Programmierer tätig, wohnt seit ein paar Jahren mit seiner Lebensgefährtin in Bremen, werkelt regelmäßig am Leumond und verfasst von Zeit zu Zeit Texte.