Leumond
Oktober 2003

Das Gummibärchenquintett


Martin Janecke



Das Gesetz der großen Zahl



"Und wie machen Sie, dass jeder gleich viele rote und gelbe und durchsichtige Gummibärchen kriegt? Zählen Sie die ab?"
"Du meinst, weil sie hier auf dem Laufband schon vermischt sind?"
(interessierte Tonalität der Stimme des Mirasofirmenvertreters1 [MFV])
"Ja."
"Das garantiert uns und unseren Kunden das 'Gesetz der großen Zahl'."
(bedeutungsvolles, begleitendes Nicken des MFV)
"Und was steht da drin?"
"Würdest du sagen, in einer Miraso Vorratspackung sind viele Gummibärchen, mein Kleiner?"
"Ne, zu wenig."
"Ho ho ho..."
(erwartungsvolle Mimik und Gestik des MFV)
"Ja."
"In dem Gesetz steht Folgendes geschrieben: Wenn man ganz viele Miraso Gummibärchen in eine Verpackung füllt, landen immer genau gleich viel jeder Farbe darin."
(bedeutungsvolles, begleitendes Nicken des MFV)
"Und wer sagt das?"
"Darf ich dir eine persönliche Frage stellen, mein Kleiner?"
(verschwörerische Mimik des MFV)
"Ich hab zu erst gefragt."
"Ho ho ho... Ich vergesse es nicht, Mirasoehrenwort!"
"Hi hi... okay."
"Glaubst du an Gott?"
(verschwörerische Mimik des MFV)
"Hm... ja?"
(bedeutungsvolle Mimik und Gestik des MFV, schließt das heben seines Zeigefingers nach oben ein)
"Echt?"
(bedeutungsvolles Nicken des MFV)
"Und ist das bei den zehn Geboten?"
"Nein, die zehn Gebote sind für uns Menschen. Das 'Gesetz der großen Zahl' ist extra für die Miraso Gummibärchen."
(bedeutungsvolle Mimik und Gestik des MFV, erstaunte Mimik des Jungen)
"Kann ich dir noch eine Frage beantworten, mein Kleiner?"
(Kopfschütteln des Jungen)
"Gut, dann bedanke ich mich für dein Interesse. Hier habe ich noch eine kleine Belohnung für deine tolle Ehrlichkeit."
(MFV reicht dem Jungen mit verheißungsvoller Mimik und Gestik eine Packung Miraso Gummibärchen)
"Danke."
"Es war mir eine Ehre."

Der Rassenhass ist überall



Ein Mann saß leicht nach vorn gebeugt auf einer Parkbank, hielt in einer Hand eine Tüte mit Gummibärchen. Mit Daumen und Zeigefinger suchte er in ihr, bis er eine Süßigkeit seiner Wahl aus der Verpackung zauberte. "Die Weißen sind mir die Liebsten", murmelte er mit zufriedenem Lächeln, kurz bevor er ein Bärchen in seinem Mund verschwinden ließ. Als sein Suchen von Gummitier zu Gummitier immer länger andauerte, stand er nach einem finalen farblosen Bärchen auf. Er schlenderte den Weg in Richtung CBD am künstlichen Bach entlang. Vor einer Parkbank, die seiner zum verwechseln ähnlich sah, zupfte der Mann seine Hosenbeine am Knie etwas nach oben und ging in die Hocke. "Möchten Sie ein paar Bärchen, Mister?", fragte er. Der Penner auf der Bank hob seinen Kopf und nickte. Er streckte die fingerlos-behandschuhten Hände aus seiner embryonalen Liegeposition ein Stück vor, nahm die Tüte mit dem bunten Inhalt von einem dankbaren Grunzen begleitet an. Der Mann machte eine eher rituelle Abklopfbewegung seiner Hände und nahm die Verfolgung des Bachlaufes wieder auf.

Deshalb Gummibärchen



"Das Ganze steht also in überhaupt keinem Zusammenhang mit Gummibärchen.
Es ist auch keine Fabel im klassischen Verständnis. Dieses Kurzprosaische Stück hat, wie Sie sicher bemerkt haben, keine Handlungslinie. Es hat keine Handlungslinie. Nein, die 'Geschichte' hat nicht einmal eine belehrende Form.
So bleibt die Frage: 'Wieso Gummibärchen?' Ich werde es Ihnen sagen.
Die Autorin hat keine Geschichte. Sie hat keine. Das weiß sie, ja, natürlich!
Sie möchte allein ihren Gefühlen Ausdruck verleihen. Sie möchte sagen: 'Ich empfand einen tiefen Schmerz.
Als die Hütchenspieler die alte, gebrechliche Dame um ihr Geld betrogen, tat mir das im Innersten meines Gerechtigkeitsempfindens weh. Im Innersten. Vielleicht meinte sie, ihre geringe Rente mit dem noch regen Geist stützen zu können.
Doch sie wusste eines nicht: Sie hatte gar keine Chance. Weil man sie betrog - um mehr Geld, als ich in meinem Leben besessen hatte. Denn ich war noch ein Kind. Nur wenige Augenblicke, die mich verwundeten.
Ich konnte nichts dagegen tun. Nichts. Außer es in meinem Gedächtnis konservieren und dem irgendwann einmal Ausdruck verleihen.'
Nur das möchte uns die Autorin sagen. Nun, der Zeitpunkt ist gekommen.
Interessiert das jemanden? Nein, das können Sie mir glauben. Mich jedenfalls nicht, mich als Otto-normal-Verbraucher. Und auch das weiß die Autorin. Sie merken sicherlich, ich komme zu meiner Frage zurück: 'Wieso Gummibärchen?'
Damit die Menschen trotzdem zuhören. Damit Sie ihr zuhören.
Die Gummibärchen lassen den Kontext paradox wirken. Widersprüchlich. Ich möchte an dieser Stelle auch den Witz, den ihr Ausdruck enthält, nicht verhehlen. So etwas wollen wir lesen. Das interessiert die Menschen.
Deshalb Gummibärchen, meine Damen und Herren."

Majas Wunsch



Bei einem Anschlag in Tel Aviv starben heute elf Zivilisten,
darunter auch Frauen und Kinder.

Setz dich aufrecht hin, Mädel.
Dein Bruder zieht für dich in den Krieg!
Soll er keinen schönen Anblick in Erinnerung behalten?

Manchmal wünschte Maja sich,
die Menschen wären wie Gummibärchen.
Man kann sie nicht nach Geschlechtern unterscheiden.
Es gibt wohl nur eines: das der Bärchen.
Keine Vorurteile, keine Rollen,
keine Probleme wegen Chloe.

Maja griff nach einem Gummibärchen.
Der Film ging weiter:
Der 2te Offizier rief "Frauen und Kinder zuerst!"

Das Violinenspiel



Einmal versammelten sich die sechs Virtuosen des Violinenspiels, um ein Konzert in der weltberühmte Kutskaja-Oper vorzubereiten. Das Programm sah ein Stück für nur fünf Geigen vor: das "Gummibärchenmärchen" Marlowskis. So entlockten die Musiker ihren Instrumenten in den ersten Proben schon die wohligsten Klänge. Sie gaben sich als die besten Freunde, sie schüttelten sich die Hände, sie übertrafen einander und sich selbst mit stetig wachsender Perfektion; sie konkurrierten. In den Pausen standen sie zusammen und unterhielten sich, als entwüchsen sie einer Familie. Während des Spiels lauerten sie nur auf den kleinsten Fehler ihrer Kollegen. Es glänzten jedoch alle sechs mit Disziplin und Genialität. Keiner der Violinisten konnte sich in dem erlauchten Kreis über die anderen erheben, keiner blieb Können schuldig. Nach einer Woche nahm der älteste der Virtuosen eine fast leere Tüte Gummibärchen (die einen ausgezeichneten Kontrast zur Kleidung des Musikers bildete) und wandte sich an seine Mitstreiter: "Freunde! In diesem Raum stehen die mit Abstand besten Violinisten der Welt und unterhalten sich. Ich spreche von Ihnen, meine Freunde, und bin außerordentlich glücklich, auch mich zu Ihnen zählen zu dürfen. Das Schicksal allerdings wollte zu meinem ehrlichen Bedauern, dass unser grandiose Marlowski 'nur' ein Quintett schrieb. Meine Freunde, einer von uns muss diese Runde verlassen. Das ist die traurige Wahrheit. Keiner von uns steht einem anderen in irgend einer Weise nach. So unterbreite ich Ihnen den Vorschlag, dem Schicksal die Gelegenheit zu geben, seine Arbeit zu Ende zu führen. Freunde, passend zu diesem Stück brachte ich eine Tüte Gummibärchen zur heutigen Probe. Es befinden sich darin noch fünf gelbliche und ein rotes Gummibärchen. Der das Rote zieht, tritt aus unserer Runde mit dem Wissen, nicht weniger Vermögen, sondern nur weniger Glück zu haben. Das ist mein Vorschlag, meine lieben Freunde."
Einen Moment lang zogen sich die anderen Musiker zu einer Beratung zurück. Nach kurzem Murmeln traten sie vor. Aus ihrer Mitte sprach einer der Violinisten: "Mein lieber Kollege, eine Woche lang trafen wir uns in Eintracht in diesem Saal. Wir teilten unsere Zeit miteinander, um einem großen Stück zu neuem Leben zu verhelfen. Unsere gemeinsame Arbeit ist auf dem Wege eine Einheit zu formen. Nun müssen wir leider feststellen, dass Sie, werter Kollege, einen von uns aus dieser Einheit reißen wollen. Dieser Versuch, uns zu entzweien, zeigt nur: Sie passen in keine Gemeinschaft. Deshalb fordern wir alle Sie auf, uns zu verlassen."

1Das eingetragene Warenzeichen "Miraso" geht auf die Inhaber der "Westdeutschen Leckerbissen Manufaktur" in den späten fünfziger Jahren zurück. In einem außergewöhnlichen Verfahren stimmte damals die gesamte Belegschaft des Unternehmens zwischen den modernen Kurzformen "Welema" (für Westdeutsche Leckerbissen Manufaktur) und "Miraso" (für Miffler, Raffael & Sohn) ab. Die Wahl wurde, nach dem Vorbild der jungen Bundesrepublik frei, gleich und geheim durchgeführt. Eine überwältigende Mehrheit von 68% der Belegschaft entschied sich für den Namen "Miraso", der schon ein halbes Jahr später alle Packungen der Süßwarensparte der "Westdeutschen Leckerbissen Manufaktur" zierte.