Leumond
Dezember 2007

Hunger am Weihnachtsabend


eine Weihnachtsgeschichte


Hannelore Halper



Es war am Weihnachtsabend im dicht verschneiten Winterwald. Ein armer einsamer Mann stapfte durch den Schnee. Die Eiskristalle glänzten im Mondlicht und bei jedem Schritt knirschte es unter seinen dünnen Sohlen. Es war bitter kalt und er zitterte unter seinem verschlissenen Mantel. Er hatte seine Arbeit verloren, die Frau hatte ihn verlassen, sein einziger Sohn war gestorben und seine Freunde haben sich von ihm abgewendet. Er hatte er niemanden mehr.
„Einmal waren Weihnachten schön,“ sinnierte er. „Der Lichterbaum erhellte die Stube und alle waren fröhlich.“ Das war nun alles vorbei.
Der Hunger trieb ihn voran. In der Ferne sah er einen Lichtschein. „Dort werde ich anklopfen“, dachte er, „vielleicht gibt es gute Menschen und sie haben ein Herz für mich. Sicher haben diese Leute genug zu essen und werden mir meine Bitte nicht abschlagen.“
Als er bei dem Haus ankam, fasste er sich ein Herz und klopfte leise an die Tür. Es rührte sich nichts. Nochmals pochte er zaghaft und das Tor wurde geöffnet. Eine dicke alte Frau erschien im Türrahmen. „Was wollen Sie?“ fragte sie unfreundlich und wischte das Fett von ihrem Kinn. Mit gesenktem Blick und leiser Stimme sagte der arme Mann: „Liebe Frau, hätten Sie vielleicht ein wenig für mich zu essen? Ich habe Hunger und heute ist Heiliger Abend.“
„Nichts da! Verschwinde du jämmerlicher Bettler. Wir haben nichts für solche wie dich“, dröhnte die Alte und spuckte ihm ins Gesicht.
„Ich wünsche dir, dass du dein Essen in Zukunft unter der Rinde der Bäume suchen musst“, verfluchte sie der Bettler und verschwand in der Dunkelheit.

Der Fluch begann auf der Stelle zu wirken und die geizige Person wurde zu einem Vogel, der sein Futter unter der Rinde der Bäume suchen musste. Diesen Vogel nennt man seither „Specht“.

Hannelore Halper ist Kulturredakteurin der e-Zeitung "Die Virtuelle" und Werbemanagerin.
Im Bereich Literatur schätzt sie vor allem Klassiker und Werke der Romantik.