Über den Acheron
Sebastian Gaidus
Es ist möglich, ja, für jedes lebende Wesen sogar irgendwann notwendig, die Grenze der materiellen Welt zu jener anderen Welt zu überschreiten. Jener anderen Welt, die zu jeder Zeit und von allen Kulturen bestaunt und gefürchtet wurde, von der das Menschengeschlecht jedoch so wenig weiß, dass ich mich hier nicht einmal auf eine Bezeichnung wie „Jenseits“, „Totenreich“ oder dergleichen festlegen möchte. Tatsächlich wären eben genannte Namen auch schon völlig unzureichend, da sie jenes „Reich des Anderen“ auf das Land der Toten beschränken – die Wirklichkeit scheint aber zu sein, dass zu diesem, in enger Verbindung und untrennbar mit ihm verwachsen, andere Regionen, wie die nebligen Traumlande gehören. Schon die alten Griechen stellten Schlaf und Tod schließlich als Zwillinge und Diener Hades’ dar.
Ob es „Grauzonen“ oder anders ausgedrückt Zwischenräume zwischen den beiden großen Reichen gibt, die der Lebendige betreten und wieder verlassen kann, entzieht sich meiner Kenntnis. Sicher – im Schlaf können wir Blicke in die Andere Welt erhaschen; aufhalten können wir uns dort jedoch nicht. Und von den Toten ist bekannter Maßen noch niemand zurückgekehrt. Es kann somit als sicher angenommen werden, dass es zwischen den Welten Trennlinien gibt, die nur in eine Richtung überschritten werden können. Eben dies soll vorliegendes Schriftstück belegen, denn es beschreibt den Versuch, sich den alten Fährmann Charon so weit gewogen zu machen, dass er sich entschließt, einen kurzen Aufenthalt, mit anschließender Rückkehr zu gewähren, in jenen abseitigen Landen. Ich selbst nahm mit meinem unglücklichen Freund Wolfgang Lehms dieses Unterfangen auf mich, wofür ich die Götter noch einmal um Vergebung bitten möchte. Natürlich werden sie sie mir nicht gewähren; denn sie sind es, die Naturgewalten gleich über die ehernen Gesetze wachen, die jeder Mensch schon instinktiv befolgen sollte. Wahrscheinlich kannten wir die Konsequenzen unserer Blasphemie von Anfang an – und nahmen sie in unserer mythischen Verzückung billigend in Kauf.
Wolfgang Lehms – wer anderes wäre geeignet, einen Vorstoß auf die andere Seite zu wagen, wer anderes wäre bereit sich dem unweltlichen Wahnsinn auszusetzen, wenn nicht einer, der nicht an seinem leiblichen Leben hängt? Ja, gewissermaßen und wenn auch nur ein kleines Stück weit, hatte Wolfgang schon immer dort drüben gelebt oder zumindest Ahnungen von jenem „drüben“ gehabt. Wahrscheinlich hatten sich schon seit er denken konnte unheilvolle Gedankenkonstrukte beinahe selbsttätig hinter seiner hohen Stirn gebildet, hatten seine tiefen dunklen Augen schon immer den Glanz der alptraumhaften Vision gehabt. In der Welt gewöhnlicher Menschen jedenfalls, war er nie heimisch geworden. Sie hatten ihn einfach nicht interessiert, waren ihm zumeist, wie er mir später anvertraute, unwirklicher erschienen, als die kreischenden bunttobenden Gebilde, die ihn des nachts mit einem Schrei aus dem Schlaf hochfahren ließen. So war ihm auch die Wirkung, die er auf andere Menschen erzielte, gleich gewesen: Sein rabenschwarzes Haar hing ihm tief in die Stirn, seine Kleidung war unauffällig, wenn sie nicht in selteneren Fällen einfach unpassend war. Seine Gleichgültigkeit in derlei Dingen war offenbar so vollständig, dass man seine Erscheinung weder als gut aussehend noch als hässlich oder etwas dazwischen angesiedeltes klassifizieren mochte. Das bedeutete allerdings nicht, dass er keine Freunde hatte. Es gab einige, mit denen er aber hauptsächlich schriftlich verkehrte, denn dies war es, wofür er menschliche Gesellschaft als nützlich befand: Der rein intellektuelle Austausch. Nicht einmal für den Erhalt der eigenen physischen Existenz schien er Sorge tragen zu wollen oder zu können. Zwar schrieb er eine nicht unerhebliche Anzahl an Kurzgeschichten und Romanen, doch ließ er sich in der Ausübung seiner Kunst nicht von Dingen wie dem Publikumsgeschmack oder auch nur allgemeiner Verständlichkeit beeinflussen. So verwundert es auch nicht, dass er irgendwann den Entschluss fasste, einen Fuß ins Reich des Anderen zu setzen.
Allein über diesen Entschluss, so muss es mir heute scheinen, lockte er mich und machte mich zum Komplizen seiner Häresie. Sein verzweifeltes Drängen packte mich, ohne dass ich ihn zunächst persönlich kannte. Ich las es, wenn mir die Einzelheiten auch erst später bewusst wurden, aus seinen seltsamen Werken heraus, erahnte es hinter jedem Buchstaben. Es war die einzige Botschaft, die diese Bände enthielten, die eine Botschaft, die außer mir niemand zu verstehen schien, was auch der Grund dafür sein dürfte, dass seine eigentlich brillanten Schriften von der breiten Leserschaft als unsinniges Gestammel abgetan wurden. Das Gestammel eines Irren. Und vielleicht waren sie mit dieser Schmähung nicht gänzlich im Unrecht und vielleicht war er noch schlimmeres als bloß ein armer Wahnsinniger. Ein Narr, ein Ketzer, ein Verbrecher selbst am Göttlichen. Aber eines war er mit Sicherheit: Er war mein Freund, mein einzig wahrer Freund.
Von dem Augenblick an, da wir uns das erste Mal trafen, herrschte zwischen uns ein tiefes Einverständnis. Unter welchen Umständen dieses erste Treffen stattfand, weiß ich nicht mehr zu sagen, nur der Orkus, den ich in jenem Moment hinter Wolfgangs Augen brodeln sah, ist in meinem Gedächtnis haften geblieben. Dieser selbst und die Zustimmung zu jener unserer infamen Verschwörung die er beinhaltete und die auch in meinen Blicken gestanden haben muss.
So sprach der neue Gefährte zu mir: „Dünn ist das Band, das uns an dieses Traumgebilde der Materie kettet und ich verachte es. Die Möglichkeiten, die voraus liegen, müssen ungleich größer sein und es scheint nur recht und billig zu sein, wenn wir, die wir über den Dingen des Steins und des Fleisches stehen uns endgültig aus ihrem Joche befreien.
Der Weg des Menschen aber, auf welchem er wandeln muss, um völlig ins Reich des Unkörperlichen zu gelangen, muss notwendigerweise auch durch das Tor des Todes führen. Dies würde jedoch eine Reise ohne jegliche Chance auf Wiederkehr darstellen und wer kann schon sagen, ob unsere unsterblichen Seelen, der Erinnerung an diese Welt wohl sofort entwöhnt, noch das ganze Ausmaß der unbegrenzten Herrlichkeiten erfassen könnten?
Nein, dieser Pfad ist es nicht, den wir einschlagen wollen, wir müssen hinüber, ohne unsere Körper gänzlich preiszugeben. Dies soll fortan unser ganzes Streben sein, koste es was es wolle, wenn Sie dieses Unterfangen mit mir wagen wollen.“
Natürlich wollte ich und natürlich ergriff ich die Hand, die sich dort unter der dunklen Kleidung hervorschob und ich schüttelte sie, zum Letzten entschlossen und sie sah aus wie ein filigranes Gebilde aus weißestem Marmor und fühlte sich an wie ein geschnürtes Bündel Schicksal. Warum war ich bereit, es auf mich zu nehmen, diesem verblendeten Propheten zu folgen? Damals wusste ich es nicht und heute bin ich nicht klüger. Vielleicht war es eine dunkle Veranlagung, die sich nun ans Tageslicht schleppte oder Überdruss ob der Durchschaubarkeit des täglichen Einerlei; vielleicht wäre aber auch jeder dem teuflischen Charme Wolfgang Lehms erlegen.
Vorbereitungen hatte dieser inzwischen getroffen: Wolfgang hatte sich in einer kleinen verschwiegenen Ortschaft erfolgreich um den Posten des Totengräbers beworben, wobei das kümmerliche Gehalt der geringen Anzahl anfallender Toter durchaus angemessen war. Aber das Finanzielle war schließlich auch nicht seine Motivation gewesen, was dies betraf brauchte er sich aufgrund seines ererbten Vermögens keine allzu großen Gedanken zu machen. Von diesen Geldern erwarb er auch ein altes zweistöckiges Haus, das an den Friedhof grenzte und uns fortan als Wohnstatt dienen sollte. Stumm und düster lag es da, auf einem leicht ansteigenden Hügel, außen zumeist feucht vom Nebel. Als ich es das erste Mal sah, war ich zutiefst beeindruckt und überzeugt, dass dies das richtige Objekt für unsere morbiden Tätigkeiten darstellen würde. Ich schauderte regelrecht beim Anblick seines schadhaften Daches, das sich, beinahe bis zum Boden reichend, wie die schwarzen Schwingen eines höllischen Raubvogels, schützend über unsere Machenschaften legen würde. Der Atem stockte mir, als ich das ehrwürdige Portal durchschritt und mich wiederfand in einer staubgesättigten Welt, in der ein unfassbares Fluidum des Verfalls pulsierte. Einzig die noch relativ neuen Möbel, die Wolfgang hatte hierher bringen lassen, fügten sich noch nicht in das Bild der Vergänglichkeit. Unter diesen waren auch einige zyklopisch anmutende Bücherregale, die gefüllt waren sowohl mit altertümlichen Sagenerzählungen und parapsychologischen Sachbüchern, als auch mit okkulter Lektüre, die sich mit befremdlichen Ritualen befasste und anderen bizarren Auswüchsen der Schriftstellerei.
Gleich nachdem ich mein weniges Gepäck hinauf auf das Zimmer verbracht hatte, das ich fortan bewohnen sollte, ging ich wieder ins Erdgeschoss, ließ mich in einen großen Ohrensessel sinken und widmete mich einem der besonders obskuren Werke. Wolfgang hingegen hatte deutlich mehr persönlichen Besitz mitgebracht, darunter auch eine aus dunklem Holz gefertigte Geige und diverse Schreibutensilien, und benötigte mehr Zeit, alles an seinen Platz zu bringen. Gegen Nachmittag – die Sonnenstrahlen zogen nunmehr dünne rötliche Fäden durch den immerwährenden Nebel – begaben wir uns das erste Mal auf erwähnten Gottesacker. Damals verspürte ich noch jenen leichten Schauder, den viele empfinden, wenn sie sich zwischen schiefen, verwitterten Grabsteinen bewegen und der Duft des Vergangenen über allem liegt. Wolfgang aber schien schon damals bar aller Skrupel und Scheu vor dem Befremdlichen zu sein. Leicht tänzelnden Schrittes sah ich ihn verträumt umher wandern, sein Antlitz zeigte die Zeichen äußersten Wohlbehagens und seine Nasenflügel blähten sich, auf dass ihm auch nicht nur der geringste Aspekt des olfaktorischen Eindrucks entginge. Kein Zweifel – er hatte sich einmal mehr dem Opiumkonsum hingegeben, doch, so stellte ich erschrocken fest, war ich nicht in der Lage, mir einzureden, dass alles, was der Entrückte in diesem Augenblick sehen mochte, seinen Ursprung in der Droge hatte.
Überhaupt nahmen derartige Friedhofsbesuche immer mehr von unserer Zeit in Anspruch – und bald bewegte auch ich mich mit viel größerer Selbstverständlichkeit zwischen den Toten; bis das Grauen zu angenehmer Spannung, das Fremde zu Vertrautem und die Angst zu perverser Ekstase wurde. Letztlich kostete es mich sogar Überwindung, mich von der bekannten, im Mondlicht blausilbern schimmernden Erde zu entfernen, wo sich in behaglicher Düsternis die Konturen von klobigen Grüften abzeichneten und freudig verrostetes Metall knarrte, wo auch die anderen Freunde der Düsternis auf ihren schwarzen Schwingen dahinglitten und ausgelassen jauchzten. Schließlich begann auch ich mit dem Opiumrauchen, denn es hilft dabei, bestimmte Dinge wahrzunehmen; es trägt einen näher an die äußeren Sphären des körperlichen Daseins, bis man in der Ferne die kreischenden Vorposten des Anderen Reiches erkennt. So begriffen wir diese Ruhestätte vergangener Generationen immer mehr als alleinigen Schauplatz unserer finsteren Studien, trugen mit übertriebenem berauschten Pathos den Verblichenen makabre Gedichte vor und befühlten mit zitternden Händen die grauen Grabsteine. Ja, sogar in die Grüfte wagten wir uns mit heftig schlagenden Herzen vor und genossen es, wenn ewig eingeschlossene Luft unsere Gesichter liebkoste und unsere Geruchsnerven zum Aufheulen brachte. Und, ich schäme mich nun, es zuzugeben, die größte Befriedigung war es für uns direkt in die erkalteten Gesichter und die leeren Augen der Hinübergegangenen zu blicken. Bei all unseren Tätigkeiten aber war Wolfgang mir immer um einige Schritte voraus, stets überragten seine Begeisterung und seine Hingabe die meine um Längen. Deshalb wohl zeitigten unsere Bemühungen bei ihm eine weitaus stärkere Wirkung. Oft lauschte ich wie gebannt, wenn er mit vor unsagbarem Schrecken aufgerissenen Augen berichtete, was er soeben in seinen Visionen erblickt hatte: Verschwommene Landschaften, deren Umrisse dennoch messerscharf ins Auge schnitten, erfüllt von diffusem weißen Licht und bewohnt von in Tücher gehüllten Gestalten, um nur die harmloseren zu nennen. Um jene anderen zu verschweigen, für deren Beschreibung Wolfgangs menschliche Sprache unzureichend schien, die seinen Verstand Stück für Stück auffraßen und mich schon beim Zuhören in tiefste Angst versetzten. Noch heute martern seine Worte über jene Dinge meinen Geist, sind mir immer noch so schrecklich präsent: „Und über allem – brennend blaues Licht speiend – einer Sonne gleich, die stets in dämonische Ewigkeit unterzugehen scheint, die den Verstand blendet und verborgene Ängste aus dem Schatten reißt, steht es. Es sieht aus wie ein Auge, kein menschliches, eher ein Schaufenster in die Abgründe kosmischer Leere – und natürlich ist es kein Auge, es ist eine Ordnung, ja eine Ordnung, eine allumfassende diabolische Zwangsläufigkeit, die keine Unregelmäßigkeit duldet!“
Unsere dunklen Eskapaden begingen wir allerdings nicht nur auf geweihter Erde, sondern wir schleppten sie wie einen frischen Leichnam in alle Bereiche unseres Lebens. Tagsüber schliefen wir meistens und wachten wir, so hielten wir uns häufig in der Feuchtigkeit des Kellers auf. Oder wir wandelten zwischen den drohend aufragenden Bäumen des nahen Waldes umher. Unser Haus hatten wir – hatte Wolfgang – in ein begehbares Abbild der menschlichen Todes- und Geisterangst verwandelt: Nur schwaches Licht fiel durch die schweren schwarzen Vorhänge, die vor den Fenstern hingen, die Wände verunzierten grässliche Gemälde offenbar geisteskranker Künstler und, ungleich schrecklicher, einige grinsende Totenschädel. Und all das, das gesamte Bild des Grauens, war untermalt und gesättigt von Wolfgangs disharmonischem Saitenspiel. Manchmal saß er, in sein Spiel vertieft ruhig und beinahe apathisch in der Ecke, oft jedoch sprang er, das Instrument quälend, wie rasend durch das Zimmer. Ich saß in solchen furchtbaren Momenten meistens nur still in einem der großen, mittlerweile staubigen Sessel, vor mich hinstarrend, um Ruhe ringend und von nervenzerreißendem Entsetzen und Verzückung gleichermaßen erfüllt. Zeit spielte für uns keine Rolle mehr, sie schien überhaupt nicht mehr zu existieren, draußen lag sowieso alles in weißem Nebel, mein Gefühl aber sagte mir, obwohl ich an mir keinen Beweis für eine derart abseitige Theorie finden konnte, das Jahre, ja, Äonen vergangen sein mussten. Einzig Wolfgangs Tagträume nahmen unaufhörlich zu, bis normale Gespräche mit ihm zur Schwierigkeit wurden. Auch ich glaubte nun immer häufiger etwas anderes, fremdes erahnen zu können hinter den Bildern, die meine Augen lieferten.
Als unsere Perversionen schließlich ihren Höhepunkt erreichten, war unser Werk schon so weit gediehen, dass sie uns als völlig natürlich erschienen. Mittlerweile waren wir dazu übergegangen, uns nicht mehr gelegentlich mit Hilfe von Opium durch die Pforte zum Anderen Reich zu schleichen, sondern sie unter Einsatz großer Mengen Kokain aufzustoßen. Doch verwendeten wir hierzu kein reines Kokain. Stattdessen bedienten wir uns eines dunkleren Gemisches aus jenem weißen Pulver und – wofür es keine Sündenvergebung geben kann – den Asche gewordenen Überresten derjenigen, denen zu ewiger Ruhe zu verhelfen eigentlich Wolfgangs Aufgabe war.
Auch als jene entsetzliche Nacht kam, war unser Bewusstsein benebelt. Ich saß zusammengesunken in einer Ecke, in meinen Ohren tobte Wolfgangs irrsinnspeiendes Geigenspiel und vor meinen Augen vereinigten sich Farben und Formen in einem schwankenden Totentanz. Wolfgang ging, mit raschen Schritten und sein Instrument bearbeitend, vor mir auf und ab, sein Gesicht schweißüberströmt und verzerrt. Unser Treiben hatte seinen Zenit erreicht, Wolfgang redete wirr von den unbeschreiblichen Welten, die er zu sehen verurteilt war und auch ich erkannte ihre Konturen immer deutlicher. Und obwohl uns all dies endloses Vergnügen und eine unheilige Freude bereitete, war da noch etwas anderes; eine unterschwellige Angst, die wir zu unterdrücken suchten, deren schwarze Wogen jedoch immer höher schlugen. Gelegentlich donnerte es und der Sturm tobte gegen unser Haus. Ging ein Blitz hernieder, so unterbrach Wolfgang urplötzlich sein Spiel, der Wahnsinn wich ein wenig aus seinen Zügen und er sah mit einer unnatürlich anmutenden Wachsamkeit zum Fenster hinaus. Und auch ich fröstelte in diesen Momenten, obschon ich nicht sagen konnte warum. Irgendetwas hatte es mit diesen Blitzen, diesen selten grellen und blautanzenden Blitzen zu tun, auch wenn sie nicht wirklich die Ursache waren. Anfangs noch leise, später immer deutlicher hörte ich bei nachfolgenden Blitzen Wolfgang zwei Worte murmeln, zwei Worte die meine leichte Furcht in Grauen umschlagen ließen: „Das Auge…“
In immer dichterer Folge wurde die tot daliegende Außenwelt nun in schauerliches Licht getaucht und ich wurde immer unruhiger und klänge es nicht so verflucht albern, würde ich behaupten, dass dort überhaupt kein richtiges Blitzen war, sondern dass die Sterne in gerechtem Zorn aufleuchteten und hasserfüllt pulsierten.
Mit einem ohrenbetäubenden Donner ging schließlich ein Blitz hernieder, der auch unseren Raum in gleißende Helligkeit tauchte, sodass ich für einen Sekundenbruchteil die zahllosen andersweltlichen Schrecken in Wolfgangs Augen sehen musste und alle Schatten in purem Entsetzen hinaus stürmten. Mit umso größerer Wucht kehrten sie darauf aber zurück und sofort lag alles in undurchdringlicher Finsternis. Ich saß einfach nur da und hielt den Atem an.
Meine Blicke vermochten kurz darauf jedoch wieder das Zimmer zu durchmessen und so erblickte ich Wolfgang, der wie von einer höllischen Macht getrieben losrannte und – mit einer Hand seine Geige umklammernd – in den Keller hinunter stürmte. Schwankend bewegte auch ich mich nun auf die Kellertreppe zu und noch während ich ging, hörte ich von unten Wolfgangs morbides Spiel von Neuem beginnen. Wie angewurzelt blieb ich stehen, denn die Klänge, die zu mir heraufdrangen, waren grauenhafter, als alles, was ich bisher gehört hatte. Einige Minuten lauschte ich hilflos, dann gesellten sich zu den schreienden Kakophonien Worte Wolfgangs oder zumindest Worte, die wohl über Wolfgangs Lippen drangen. Es waren seltsame Worte in einer unendlich fremden Sprache, die Wolfgang hektisch hervorbrachte. Dabei wurde er, so klang es zumindest für mich, immer panischer, letztlich schien er herzerweichend zu flehen und zu betteln, währenddessen sein Geigenspiel immer rasender wurde. Und in dem Augenblick, da ich glaubte, dass die Geräusche von dort unten nicht mehr schlimmer werden könnten und sie es dennoch taten, wurden sie überschallt von einem verzweifelten Schrei Wolfgangs, der die Nacht durchschnitt und sogar das Donnern übertönte. Dann herrschte augenblicklich Stille. Lange Zeit noch stand ich regungslos an der Treppe. So lange Zeit, dass ich zu spüren glaubte, dass sich der graue Staub nun auch auf mich legte.
Schließlich aber bezwang meine innige Freundschaft zu Wolfgang meine verzehrende Angst und ich ging hinab. Um es kurz zu machen und sämtliche Schilderungen meiner anfänglichen Überraschung, meines Unglaubens und letztlich meiner Verzweiflung auszusparen: Der Keller war leer.
In der selben Stunde noch verließ ich das Haus, um nie mehr zurückzukehren. Ich ging fort, wobei ich es sorgsam vermied, einen Blick in Richtung des Friedhofs oder hinauf zu den drohenden Sternen zu werfen.
Nein, ich kehrte tatsächlich nie mehr zurück. Wahrscheinlich könnte ich es auch gar nicht mehr, denn die Jahre und mein Gehirn, vermutlich in dem Versuch, meinen Verstand zu schützen, ließen den Schauplatz des Grauens dem Vergessen anheimfallen. Vielleicht, so könnte ein Unbeteiligter sagen, sollte ich auch den Rest vergessen. Schließlich ist seitdem geraume Zeit vergangen, keine Verbindung zu jener Zeit ist mir geblieben. Nicht einmal mein Freund Wolfgang Lehms. Wäre es nicht einfach, alles als eine komplexe Geistesverwirrung oder einen bizarren Fiebertraum abzutun? Sicher wäre es das. Wäre es, ist es aber nicht, denn wie ich eingangs erwähnte: So ist der Tod nicht. Man gibt sich ihm nicht hin, um anschließend einfach wieder in diese Welt des Materiellen zurück zu gehen.
Natürlich, ich könnte versuchen, mir einzureden ich sei nicht zu weit gegangen, nicht wie Wolfgang, ich hätte noch einmal Glück gehabt. Aber vielmehr sieht es mir danach aus, dass es auch mich hinüberzieht, dass dies die Bedeutung dessen ist, was mich in der Nacht schweißgebadet hochfahren lässt, was ich immer deutlicher in meinen Träumen – und längst nicht mehr nur dort! – sehe:
Jene verschwommenen trügerischen Landschaften, deren Konturen dennoch ins Auge schneiden, vor denen flehend und vor Wahnsinn bebend Wolfgang steht, seine Geige umklammernd, in wehende Tücher gehüllt und über denen das brennende starrende Auge steht, mit Blicken mein Urteil verkündend.