Leumond
September 2007

Der Mann in der Wand


Bernhard Röck



Walter Layer wartete an einem späten Mittwochabend auf die Bahn. Es war 22 Uhr vorbei. Er war der einzige Fahrgast in der Station. Von draußen hörte er das Geräusch von heftigem Regen; niemand außer ihm schien sich nach draußen zu wagen. Der Geruch des nassen, schmutzigen Fußbodens und der Gestank parfumübertünchten Schweißes drangen in seine Nase. Papier- und Plastikfetzen wirbelten über die Fliesen. Eine Neonröhre brummte laut, und tauchte den Bahnsteig in flackerndes Licht. Die Belüftung blies abgestandene Luft über den Bahnsteig, schaffte es aber nicht, den Mief eines langen Tages zu vertreiben. An der Treppe zum Ausgang tropfte Wasser mit einem einschläfernd monotonen Geräusch herunter.
Walter nickte ein.
Gerade, als er begann zu träumen, weckte ihn ein Ruf. Verwirrt sah er sich um. Da war niemand.
Er stand auf, sah hinter allen Betonsäulen nach, untersuchte die tiefer gelegenen Gleise, ging sogar ein Stück die Treppe hinauf. Keine Menschenseele war zu sehen. Schließlich ging er zu seiner Bank zurück.
„Hallo! Du da … ja, du!“
Er sprang auf.
„Hilf mir!“ Die Stimme eines Mannes.
„Wo sind Sie?“
„Hier drüben! Komm rüber zu mir!“
Der Mann schien irgendwo jenseits des Gleises in der Dunkelheit zu sein.
Walter starrte in die Schwärze, die jenseits der Lichtkegel der Beleuchtung lag.
„Was tun Sie dort? Sie dürfen die Gleise nicht betreten!“
„Ich muss mich verstecken.“ Der Mann sprach so leise, dass er fast nicht zu verstehen war. „Hast du was zu essen?“
Walter trat an die Bahnsteigkante. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er eine dunkle Nische, die mit rot-weißem Absperrband gesichert war. Sehr gleichmäßig waren sich kreuzende Bänder vor die Lücke gespannt. Dahinter stand ein Baugerüst.
Nach einer Weile rief der Unbekannte: „Hilf mir … Ich bitte dich … Wenn die mich aufspüren … Ich kann hier nicht raus …“
„Wovon sprechen Sie? Wer sind ‚die’?“
„Kamerad, hilf mir. Ich habe Hunger und ich bin am Verdursten.“
Der Mann erregte Walters Mitleid. In seiner Aktentasche steckten die Reste seines Mittagessens. „Ich hab noch ein belegtes Brot und ein wenig Tee.“
„Prima! Bring es mir… bitte.“
Walter ging zur gegenüberliegenden Wartezone. Das Versteck lag etwa zwei Meter vom Bahnsteigende entfernt. Um es zu erreichen, musste er über die Gleise gehen. Er blieb stehen.
„Was ist?“, fragte der Fremde.
Walter zögerte.
„Kamerad … lass mich nicht im Stich!“ Die Stimme schien schwächer zu werden.
Walter überwand seine Bedenken.
In der abgesperrten Ausbuchtung entdeckte er ein kleines Loch in der Ziegelwand. Es war so klein, dass höchstens ein Arm hindurch gepasst hätte. Dahinter lag tintenschwarze Finsternis.
Er rief: „Hallo?“ hinein, doch erhielt keine Antwort.
Er kletterte durch die Hindernisse und blieb unschlüssig im Halbdunkel stehen, weil der andere noch immer schwieg.
Es blieb still.
Plötzlich schnellte eine Hand aus dem Loch und winkte ihn zu sich.
„Kamerad, sei leise … um Himmels willen, sonst hören sie uns. Gibst du mir das Essen?“
Langsam reichte Walter das Brot hinein, dann die Kanne mit dem Tee. Schmatzen drang aus dem Loch.
„Das tut gut“, sagte der Mann.
Nach einer Weile reichte der Fremde die Kanne zurück.
„Ich dank` dir, Kamerad … Das vergess' ich dir nie.“
„Behalten Sie das alte Ding“, sagte Walter, denn die Hand sah sehr schmutzig aus. „Was tun Sie da drin?“
„Ich verstecke mich, weil ich getürmt bin. Hatte die Schnauze voll. Die sind mir auf der Spur … Wenn die mich erwischen, bin ich fällig.“
„Ich muss jetzt gehen“, sagte Walter und sah sich um.
„Es ist noch nicht vorbei, oder? Ich meine, weil es gerade so ruhig ist.“
„Nein, ist es nicht“, sagte Walter, obwohl er keine Ahnung hatte, wovon der Mann sprach.
„Dann muss ich hier bleiben … Gib mir deine Hand … Du hast mich gerettet. Ich war echt am Verhungern.“
Die Hand kam wieder aus dem Loch. Sie war mit schwarzem Öl verschmiert. Am Handgelenk begann ein dreckverkrusteter, grauer Jackenärmel.
Walter überwand seinen Ekel und drückte die Hand.
„Ich muss jetzt wirklich“, sagte er.
„Gut, das versteh ich … In diesen Zeiten. Alles Gute für dich … Ich hoffe, du kommst durch. Lebend.“
Walter ging zurück zu seiner Bank. Die Worte des Mannes gingen ihm durch den Kopf.
Ich hoffe, du kommst durch. Lebend.
Die herankommende Bahn unterbrach seine Gedanken.

Auf dem Weg nach Hause überlegte er, was er tun könnte. Die Polizei zu verständigen, war bestimmt das Beste.
Er rief anonym von einer Telefonzelle an.

Am nächsten Morgen fuhr er der Station mit einem unangenehmem Gefühl entgegen. Was würde ihn erwarten? Würde man ihn erkennen?
Mit einem bangen Gefühl sah er, wie die hell erleuchtete Station aus der Dunkelheit auftauchte. Eine Menschentraube stand auf dem Bahnsteig, die Nische war abgesperrt. Polizisten, Arbeiter und Männer in Zivil – Kriminalbeamte, vermutete er – standen an der Nische.
Walter stieg aus. Der Bahnsteig war völlig überfüllt. Schaulustige versperrten den Weg.
In der Menge erkannte er den Schaffner Huber, den er zwei Jahre zuvor auf einer Fahrt zur Arbeit kennen gelernt hatte. Ein netter Kerl, der gern und viel redete.
„Ah, Herr Layer, Sie haben Glück gehabt … totales Chaos heute. Ihre Fahrtrichtung wird jetzt für unbestimmte Zeit gesperrt.“
„Wieso?“
Huber wies zu der Nische hinunter. „Die werden `ne Weile zu tun haben, bis sie das erledigt haben … Zuerst dachten die Herren von der Polizei ja, sie könnten es nachts schaffen, ehe der Hauptverkehr beginnt, aber … Jetzt hab ich dieses Chaos hier am Hals.“ Er schaute griesgrämig. „Das ist ein Tag.“
Walter blieb vor dem Schaffner stehen. „Was ist denn los?“
Huber sah ihn an. „Sachen gibt`s. Heute Nacht hat jemand die Polizei angerufen. Da unten stecke ein Mann in der Wand, der Hilfe brauche.“
„In der Wand?“ Er versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen.
„Ja, da, hinter der Ziegelmauer. Wissen Sie, in den letzten Kriegstagen wurde hier unten erbittert gekämpft. Oben veränderte sich die Frontlinie von Stunde zu Stunde und auch hier unten waren mal die Deutschen, mal die Russen. Dazwischen überall Versprengte, Verwundete, Zivilisten, Flüchtlinge. Weite Bereiche der Tunnel wurden verwüstet … Überall wurden Durchbrüche als Unterstände in die Wände gehauen. Nach dem Krieg mauerte man die Löcher einfach auf die Schnelle zu.
Jedenfalls … Der Beamte auf der Wache hielt es zuerst für einen schlechten Scherz … Nachts kommen die Leute ja manchmal auf sehr seltsame Ideen … Aber er hatte gerade eine Streife frei und schickte die los. Die beiden Beamten gingen zu der Nische, riefen hinein. Keine Antwort. Da leuchtete einer rein. Zuerst sah er nichts außer einem alten Hohlraum voller Schutt.“
„Was sahen die beiden?“, fragte Walter aufgeregt.
Der Schaffner musterte ihn verwundert. „Interessiert Sie wohl sehr?“
„Ach … das ist eine seltsame Geschichte.“
„Ja. Wo war ich noch mal? Ach ja, der Polizist leuchtete also auf den Boden, und da lag einer.“
„Da lag einer?“
„Ja. Ein Soldat. Aus dem Zweiten Weltkrieg. Jedenfalls sieht er so aus. Genau gesagt, lag da ein Skelett in einer Wehrmachtsuniform.“
Der Boden begann, unter Walters Füßen zu schwanken. Schweiß brach aus seinen Poren.
„Ist Ihnen nicht gut, Herr Layer? Sie sehen auf einmal so blass aus.“ Huber sah besorgt aus.
„Es geht, danke. Mir ist bloß etwas schlecht geworden. Geht gleich wieder.“
Huber nickte und fuhr in seiner Erzählung fort. „Das arme Schwein könnte ein Verwundeter gewesen sein. Vielleicht hat er sich da versteckt. Aber das werden wir wohl nie erfahren. Und wer er war, wird auch ungeklärt bleiben, denn er hatte keine Erkennungsmarke, keine Papiere bei sich. Jetzt kommt das Merkwürdige an der Sache …“ Huber hielt inne, schien zu überlegen, ob er weiter erzählen sollte.
„Was meinen Sie?“
„Der Typ, der die Polizei anrief, der sagte, er habe mit dem Kerl hinter der Mauer gesprochen, ihm ein Brot gegeben und etwas zu trinken, in einer Thermoskanne. Und jetzt raten Sie mal, was der Kerl in seinen toten Fingern hatte: Genau diese Kanne. Sehr merkwürdig, oder? Er hielt sie in der Hand. Wie ist das möglich? Also mir läuft es da kalt über den Rücken." Huber schien auf einmal nicht mehr der Schaffner zu sein, den Walter kannte. Er wirkte unheimlich. „All die Nächte, die ich hier unten verbracht habe … Allein mit diesen Mauern … Was mag wohl alles hier unten geschehen sein? Was steckt hinter diesen Wänden?" Er starrte Walter an. Ein Schatten schien über sein Gesicht zu huschen, als er mit leiserer Stimme weiterredete. „Versteckt, verborgen, vergessen … aber da. Darauf wartend, wieder zum Vorschein zu kommen.“
Walter bekam eine Gänsehaut. Es dauerte einen Moment, ehe er sich wieder fasste. „Der Anrufer, könnte sich das ausgedacht haben … Nachdem er die Leiche mit der Teekanne gesehen hat.“
„Und diese moderne Thermoskanne? Welche Erklärung haben Sie dafür? Seit sechzig Jahren war kein Lebender mehr hinter dieser Wand … und bis gestern war sie vollkommen intakt, bis auf ein winziges Loch, gerade groß genug, um die Kanne durchzureichen. Wie um alles in der Welt kommt dieses Ding in seine Hand?“ Huber sah eine Weile stumm zu den Polizisten hinüber. Er schüttelte den Kopf. „Nein, da ist was oberfaul.“
Auf einmal schienen die Wände näher zu rücken, als wollten sie Walter erdrücken. Er fühlte sich wie lebendig begraben, belauert von seltsamen, unsichtbaren Wesen. Panik stieg in ihm auf. Ein beklemmendes Gefühl schnürte ihm die Brust ein. Das Atmen fiel ihm schwer.
Er musste ins Freie, musste seine Lungen mit frischer Luft füllen, musste die Gerüche der Tunnel loswerden.
„Ich muss los. Schönen Tag, Herr Huber“, sagte er.
„Ebenfalls, Herr Layer“, antwortete der Schaffner.
Walter drängte durch die Menge zur Treppe und eilte auf die Straße, wo er stehen blieb und blinzelnd zum grauen Himmel empor sah.
Urplötzlich setzte ein Wolkenbruch ein. Leute eilten die Treppen zur U-Bahn hinunter, hasteten in Geschäfte und Bürogebäude und ließen ihn allein und verstört zurück.
Wer war der Fremde gewesen? Weshalb hatte dieser gerade ihn ausgewählt?
Bilder von Soldaten und Flüchtlingen in zerstörten Tunneln entstanden in seinem Kopf und die traurige Stimme seiner Großmutter Maria klang in seinem Ohr. Sie hatte ihm immer wieder vom Krieg erzählt, den sie in dieser Stadt erlitten hatte.
Auf der Straße war auf einmal kein Laut mehr zu hören: keine Motoren, keine Hupen, keine Stimmen. Nichts. Lediglich das Prasseln des Regens untermalte die Stille.
„Kamerad.“
Diese Stimme …
Er fuhr erschrocken herum.
Da stand ein Soldat in Wehrmachtsuniform, blutend und verdreckt. Er lächelte. „Danke … du hast mich gerettet.“
Walter konnte nichts erwidern. Ihm war, als vermischten sich Alptraum und Realität und katapultierten ihn in eine Welt jenseits seines bisherigen Lebens.
Er sah den Unbekannten deutlich vor sich: die Wunde an seiner Stirn, die schlampig mit einem blutgetränkten Tuch verbunden war, die staubbedeckte, ölverschmierte Uniform mit dem Eichenlaub am Revers, das wirre, kurz geschnittene Haar, die freundlichen, braunen Augen, sein Lächeln. Das war unmöglich … Dieser Mann war tot.
Ein paar Augenblicke standen sie einander schweigend gegenüber.
„Ich bin ein Deserteur. Du warst der Einzige, der mir geholfen hat.“ Er streckte eine schwarze Hand aus, von der Blut tropfte.
Walter war wie erstarrt und konnte einfach nicht begreifen, was geschah.
Der Fremde lächelte.
Auf einmal veränderte sich das Aussehen seines Körpers. Auf der Uniform überzogen farbige Muster den grauen Stoff. In wellenförmigen Bewegungen strömten sie über die Jacke, flossen auf die Ärmel, und erreichten die Hosen. Bald bedeckten sie auch das Gesicht und die Hände. Wo die Farben verschwanden, begann der Körper, transparent zu werden.
In diesem Moment ergriff Walter die ausgestreckte Hand.
Das Lächeln des Mannes, das nur mehr schemenhaft zu erkennen war, nahm einen traurigen Zug an, als sei es zu spät …
„Wer bist du?“
„Ich heiße …“ Die Stimme verklang im Prasseln des Regens wie Atem in einem Kissen.
Der Fremde stand jetzt flimmernd vor dem Bild der regennassen Straße. Wie eingeblendet. Unwirklich, geisterhaft. Der Hintergrund schien in ihn einzudringen und ihn aufzusaugen. Er verschwand.
Der Regen wurde schwächer und hörte auf. Verkehrslärm erklang von der Straße. Passanten hasteten eilig vorüber.
Walter fand nur langsam zu sich. Er blickte verstört umher. Gedanken wirbelten durch seinen Kopf.
Auf einmal spürte er, wie sich seine Beine bewegten, doch er hatte keine Kontrolle über sie. Sie trugen ihn zurück zur Treppe, die in die Tunnel hinunterführte. Er ließ es geschehen.
Auf dem Bahnsteig wandte er sich dem Fundort der Leiche zu, der inzwischen verlassen war. Nur zwei Arbeiter räumten den Schutt der eingerissenen Ziegelwand beiseite.
Huber rief ihm zu: „Herr Layer, geht’s nicht zur Arbeit heute? Ist Ihnen nicht gut?“
Walter antwortete nicht, sprang stattdessen vom Bahnsteig hinunter aufs Gleis und ging zu dem Loch in der Wand.
„Hey, Sie dürfen da nicht rein!“, schnauzte einer der beiden Arbeiter.
„Lass ihn doch, kann uns doch wurscht sein“, sagte der andere.
Walter zwängte sich in den Hohlraum. Dort fing er an, einen Schutthaufen mit den Händen abzutragen.
„Was macht er denn da?“, fragte ein Arbeiter.
„Herr Layer? Was tun Sie?“, fragte Huber, der ihm gefolgt war.
Walter schaffte Steinbrocken und loses Material beiseite, riss sich die Fingernägel blutig und machte weiter, bis er auf eine Betonplatte stieß. Als er diese freigelegt hatte, hob er sie hoch. Darunter lag eine alte Ledermappe. Er nahm sie an sich und zwängte sich nach draußen, wo ihn die Arbeiter und der Schaffner umringten.
„Was ist das?“, fragte Huber.
Walter öffnete die Mappe. In ihr steckten ein Ausweis, eine Erkennungsmarke und ein Brief. Die Gegenstände waren Jahrzehnte alt – der Brief und der Ausweis waren stark vergilbt und irgendeine Flüssigkeit hatte dunkle Flecken darauf hinterlassen, die Erkennungsmarke aus Metall war blaugrau angelaufen.
Aber sie waren noch lesbar.
„Woher wussten Sie …?“
Walter betrachtete seine Funde.
Der Brief war an eine Maria adressiert. Er klappte den Ausweis auf. Das Foto zeigte einen Soldaten, den er bereits kannte.
Als er den Namen des Mannes las, begannen die Buchstaben, vor seinen Augen zu tanzen und zu verschwimmen.

Paul Layer.