Leumond
September 2007

Auslese


Manuela Führer



Was bleibt einem Vampir, dem verboten wurde, frisches Blut zu saugen? Milosh Maundrell kannte die Antwort, und das seit zwei Jahren. In der siebenhundertdreißigsten Nacht seiner Strafe lungerte er wie jede Nacht im Meditationsraum der Hospizstation und wartete darauf, dass die Aura eines Patienten schwächer wurde, anstatt die des Getränkeautomaten.
Er fühlte sich wie ein Pappbecher mit einer zentimeterdicken Schimmelschicht. Aas! dachte er. Immer nur sterbendes Blut! Sonst war nichts erlaubt. Es gab schlimmere Strafen. Aber diese Liste war kurz und ekelhaft. Dabei hatte er sich nichts zu Schulden kommen lassen, jedenfalls nichts, das Folgen gehabt hätte.
Nachdem ihn der Rat unmittelbar nach seiner Verurteilung ausbluten und für die Dauer eines Monats begraben ließ, besaß er immer noch genügend Kraft, sich rasend vor Wut aufzulehnen. Doch dann hatten sie ihm seine Sammlung entrissen. Besinnungslos vor Zorn stürzte er sich ins Tageslicht und schrammte haarscharf am Flammentod vorbei. Danach trat er die Strafe an; stark geschwächt und die Zähne so sehr zusammengebissen, dass sie ihm beinahe heraus gebrochen wären.
Mit verhakten Fingern und geschlossenen Augen lauschte er dem Brummen des Kühlaggregats. Um diese Zeit huschte nur das nötigste Personal durch die Gänge, und nur hartgesottene Angehörige blieben auch über Nacht hier.
Immerhin waren die meisten Auren der Menschen hier so geschwächt, dass Milosh die Felder ertrug.
Endlich vergraute eines dieser Felder und wurde blasser.
Missmutig richtete er sich auf und machte sich auf den Weg. Die letzte Nacht, dann wäre es endlich vorbei. Er bekäme seine Sammlung wieder und musste sich an keine Regeln mehr halten. Nun ja, an fast keine. Hoffentlich war es keine zähflüssige Oma wie letztes Mal.
Milosh hatte in den Jahren zuvor nichts ausgelassen. Immer ging er ans Maximum, wütete schlimmer als jedes Tier. Einzig seine Sammlung bedeutete ihm mehr als das monatelange Spielen mit einem Opfer.
Dafür litt er jetzt auch für zehn. Seit Wochen hatte er nicht mehr als ein paar Tropfen getrunken. Inzwischen konnte er kaum mehr Auren von Hungerhalluzinationen unterscheiden.
Vorsichtig betrat er das Zimmer des Sportlers. Der Vampir vermutete anhand der Statur einen Triathleten. Ein kurzer Blick auf das Anamneseblatt genügte um zu wissen, dass das Herz des Kranken mit einer Muskelentzündung rang. Es würde diesen Kampf verlieren, Milosh spürte es ganz deutlich. Er konnte es riechen.
Ungeduldig umrundete er das Krankenbett, lefzte mit den Zähnen, flehte das Mahl herbei. Minuten später hatte die Krankheit den Mann in die Knie gezwungen, das Herz kapitulierte.
Milosh konnte seine Zähne in den Hals seines Opfers schlagen. Warm, süß und salzig rann der Trunk seine Kehle hinunter. Auch wenn es nur drittklassiges Blut war und die Medikamentennote hervorstach, stellte sich die Wirkung augenblicklich ein. Das Leben pulsierte wider in den Gliedern des Vampirs. Miloshs Speichel besaß noch genug Kraft, die Wunde zu schließen.
Befriedigt atmete er auf. Er öffnete das Fenster, um sich an seinem letzten Tag einen so theatralischen Abgang wie möglich zu verschaffen, obgleich ihn niemand sehen würde.
»Du hast eben gegen deine Auflage verstoßen, Milosh Maundrell.«
Jemand hatte sich aus dem Schatten der Zimmerecke gelöst.
»Erstaunlich, dass du so lange durchgehalten hast.«
»Ich unterhalte mich nicht mit jemandem, der sich nicht zu erkennen und Schwachsinn von sich gibt«, entgegnete der Bestrafte und stieg auf das Fensterbrett.
»Ich würde hier bleiben und mir anhören, was ich zu sagen habe. Dein Sarg wurde nämlich abtransportiert.«
Knurrend schickte er seine Gedanken hinaus, ließ sie über die Dächer fliegen, zwischen den Backsteingebäuden hindurch, die dunklen Straßen entlang, über den Friedhof und schließlich hinunter in die Gruft, ohne den Unbekannten dabei aus den Augen zu lassen. Die zwei Bilder überlagerten sich und dann kam die Bestätigung. Anstelle seines Sarges thronte ein staubiges Loch.
Er war außer sich und packte den Fremden am Hemdkragen.
»Was zum Teufel hat das zu bedeuten?« Milosh konnte fühlen, wie die Wut in ihm hochbrodelte. »Wo ist er geblieben?«
»Keine Ahnung. Du weißt von deiner Beobachtung?«
»Selbstverständlich.« Er spuckte das Wort in den Raum wie ätzenden Schleim. »Ich habe mich an die Anweisungen gehalten!«
»Der Kerl da«, der Fremde befreite sich aus der Umklammerung und spähte auf das Namensschild, »Dick Durne. Er war noch nicht tot, als du ihn angezapft hast. Beinahe, zugegeben.« Er grinste, so, als mache es ihm Spaß, Milosh bloßzustellen.
»Ich bin zwar geschwächt, aber ich weiß genau, dass der Kerl nicht mehr am Leben war.«
»In einem Punkt hat er Recht«, mischte sich eine dritte Stimme ein. »Rob, meine ich.« Ein Lachen mit geschlossenem Mund. Dunkle Kälte ergoss sich in den Raum, schwärzer als Pech in einem Kellerfass, nebelig wie Trockeneis. »Dein Sarg wird in dieser Sekunde zurückgebracht. Bitte verzeih uns diese letzte Probe«, fügte der Alte harmlos hinzu. Wüsste Milosh nicht um dessen Macht, er hätte ihm die Show glatt abgekauft.
»Milosh, du hast dich erstaunlich gut gehalten. Rob konnte es beinahe nicht glauben. Aber er irrt sich, was diesen Durne angeht. Auch heute hast du nur totes Blut zu dir genommen. Dafür gebührt dir Respekt. Von uns allen.«
Milosh knurrte und nahm die Verbeugung respektvoll entgegen, indem er das Haupt senkte. Die Stimme gehörte einem hohen Ratsmitglied.
»Rob riecht übel«, gab er zurück, »und verdammt faul.«
»Was soll das heißen?«, fauchte der Angesprochene.
»Wolltest mich ans Messer liefern an meinem letzten Tag, was? Und die Mädchen, das warst doch auch du.« Schon seit längerem hegte er den Verdacht, dass ihn irgendjemand mit verführerischen Opfern hereinlegen wollte.
»Still! Alle beide. Da kommt jemand.« Sie zogen sich in die Wände zurück und verharrten schweigend.
Der Tote wurde fortgeschafft, die Geräte abgeschaltet und eine Schwester wechselte die Bettlaken. Dann kehrte wieder Stille ein.
»Alles Weitere wird sich morgen klären«, bestimmte der Alte, nachdem sie wieder allein waren. »Die Sitzung findet im violetten Saal statt.«
Die beiden Blutsauger nickten. Damit verschmolzen die drei Gestalten mit der Nacht.

Etwas, das Milosh sofort auffiel, waren die Mädchen, die schon wieder an ihm klebten wie Fruchtfliegen am Sirup. Er hatte sich in seine formelle Robe gehüllt und kam sich trotz der Tradition overdressed vor. Sobald der offizielle Teil vorüber war, wollte er sich zwanzig blutjunge Leiber krallen und bis auf den letzten Tropfen auslutschen.
Mit einem Riesenappetit baute er sich vor dem Rat auf. Er bestand aus fünf Vampiren, zwei davon waren Frauen.
»Der Rat hat den erfolgreichen Abschluss deiner Ahndung einstimmig anerkannt. Die Tage der Sühne sind vorbei, Milosh Maundrell. Wir freuen uns, dich wieder als vollwertiges Mitglied anerkennen zu dürfen.«
»Ich habe zu danken.« Respektvoll verneigte er sich.
»Wir hoffen, du hast aus deinen Fehlern gelernt. Deine Sammlung wird dir nun wieder übergeben.«
»Ja.« Miloshs Verlangen verlagerte sich auf seine Orangenpapierchen. An die siebentausend Verschiedenen hatte er im Laufe der Jahrhunderte zusammengetragen.
Nichts geschah.
»Es gibt ein Problem«, sagte jemand. Das latente Tuscheln der Menge schwoll an.
»Nun, wie sollen wir sagen«, begann die Ratspräsidentin, »niemand hat damit gerechnet, dass du die Strafe aushalten, ja, überleben könntest. Jeder andere hätte nach wenigen Wochen aufgegeben.«
Die Wut toste in Miloshs Gefäßen. Wie konnten sie es wagen!
»Du hast dich in dieser Zeit zu einem der stärksten Vampire aller Zeiten verwandelt, ohne es zu bemerken. Rob Hollow bekam unsägliche Angst vor dir. Das gestern war eine Kurzschlusshandlung. Bitte sieh es ihm nach.«
»Das alles interessiert mich nicht! Was ist mit meinen Orangenpapierchen geschehen?«
»Nun, wie sollen wir es dir erklären? Wir haben sie verkauft.«
»Was?« Etwas in Miloshs Kopf platzte.
»Die Hälfte des Erlöses wird dir übergeben. Du bist nicht nur zum stärksten, nein, auch zum begehrenswertesten Vampir geworden, der je im Schein des Mondlichts wandelte. Eine spontane Veränderung, mit der niemand rechnen konnte. Wie bei einer Maus im Labor, der man zu wenig Futter gibt. Auch sie wird schlank, agil und die Lebensspanne erhöht sich um ein Drittel.«
Milosh hatte die letzten Bemerkungen überhört und war zum Rat gestürzt. Er bemerkte nicht, dass ihn mehr und mehr Vampire umringten. Sie kamen näher, stöhnten lustvoll.
»Ihr Elenden habt meine Sammlung verkauft!«, schrie er.
»Ich will sie zurück. Verflucht, nur ihretwegen habe ich minderes Blut gesoffen und mich wie ein feiger Hund von Toten ernährt. Von Toten!«
»Versteh doch, Milosh. Deine Strafe war nie dazu bestimmt, dass du sie überleben solltest. Aber dadurch, dass dein Wille und deine Wut dir Kraft gaben, kannst du allen Vampiren nun diese Überkräfte vererben.«
»Ich werde nichts dergleichen tun. Wem habt ihr die Sammlung verkauft?«
»Das spielt keine Rolle. Sie könnte ebenso gut verbrannt sein, weil du sie nicht mehr brauchen wirst.«
Mehr Körper umringten ihn, immer mehr wurde er nach vorne gedrängt, die Steinstufen hinauf, zum Rat.
»Verbrannt ... wie ... was zum Teufel geht hier vor?«
Körper, mehr und mehr. Ein lustvolles Raunen umwirbelte ihn von allen Seiten. Die Luft schien sich aufzuladen, Milosh fühlte winzige elektrische Ladungen an seinen Härchen explodieren.
Bald darauf hatte sich die Menge um ihn geschlossen, war zu einer undurchdringlichen Masse aus stöhnenden Fratzen geworden.
Er saß in der Falle. Zu spät hatte er bemerkt, dass diese Versammlung nur einem Zweck diente: Der Vollstreckung seiner ursprünglichen Strafe, seines Todes.
Milosh Maundrell war der stärkste Vampir. Bis die Horde wild gewordener Vampire über ihn herfiel und sich seine Kraft einverleibte. Sie saugten ihn aus, schrieen, lechzten, stöhnten, tranken. Danach fraßen sie sein Fleisch und alles, was sich von den Knochen ablöste. Als nur noch das Gerippe übrig war, zermalmten sie dieses zu Staub, der sich auch heute noch in einer schwarz lackierten Schatulle befindet. An besonders wichtigen Feiertagen wurde diese geöffnet und einige wenige Partikel unter den Mitgliedern verteilt.

Er war einfach unwiderstehlich.