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2. Februar 2008

Voreingenommenheit

Zeitweise habe ich tatsächlich das Gefühl, Menschen nach ihrer Kleidung zu beurteilen, obwohl ich mir bewusst bin, dass ich mich sehr irren kann.
Es war eigentlich kein besonderer Tag, ich saß im Stadtpark auf einer der alten Holzbänke und beobachtete die vorübergehenden Menschen mit unterschiedlichen Gefühlen. Einesteils betrachtete ich sie abschätzend, spöttisch, wenn eine ganze Familie mit Kinderwagen, schreienden Babys, Kleinkindern und zwei Hündchen, an mir vorbei spazierten. Dahinter bewegten sich schwerfällig die Schwiegereltern an einer Zigarette oder Pfeife paffend.
Die Kleidung der Sippschaft erschien mir allzu protzerisch für meine Augen, ein aufdringliches Rot bei den Frauen, die Hosen der Männer für mich keines Blickes würdig, auch die Kleinen waren mit einem unangenehmen Gelb gekleidet. Ich zog aus meiner Tasche ein interessantes Buch und las zwei Seiten. Unterdessen hatte sich eine alte Frau mit zerschlissenem Kleid und einer abgetragenen Ledertasche mit Lebensmitteln neben mich auf die Bank gesetzt, griff nach einem in Papier gewickeltes Etwas aus der Tasche, entnahm daraus eine Golatsche und verzehrte sie genüsslich. Ich musterte sie lang und kam zu dem Schluß, dass sie ärmlich nach ihrer Kleidung zu urteilen und dümmlich sein müsse. Denn sie sah für mich geistlos umher, lächelte dann unsicher und nuggelte wieder an der Mehlspeise. Ich sagte in Gedanken, diese Alte ist geizig, schaut nur auf sich – auf ihre Kleidung allerdings weniger – gibt aber sicher nichts her, geschweige denn, dass sie einen Fremden in ihre Wohnung lässt. Ich wollte mich wieder dem Buch zuwenden, da sprach sie mich an: „Sie lesen so aufmerksam in ihrem Buch, ich habe früher auch viel gelesen und auch Gedichte geschrieben. Aber heute, meine Augen lassen mich langsam im Stich. Ich lese noch immer gerne, aber, was heute geschrieben wird ist größtenteils alles andere als Qualität. Wollen Sie vielleicht meine zweite Golatsche haben, ich gebe sie Ihnen gerne? Sie sehen so hungrig aus, wirklich.“
Ich war erstaunt und peinlich berührt, hatte ich mich in ihr getäuscht? Ich spürte tatsächlich Hunger, lächelte sie an und hatte die Kühnheit die andere Mehlspeise anzunehmen.
Die Alte war doch nicht so übel wie ich sie eingeschätzt hatte, wenn sie gerne las und früher Gedichte verfasst hat, konnte sie nicht dümmlich sein. Laut sagte ich verlegen: „Also wenn ich darf. Übrigens, ich schreibe ebenfalls allerdings mehr Prosa, ab und zu auch Lyrik. Wollen Sie mal eine Erzählung von mir hören?“
„Sehr gerne. Ich wohne unweit von hier in der Seilerstätte 5,  2.Stock.. Wenn Sie mich morgen Nachmittag um 16 Uhr besuchen wollen, ich setze dann Kaffee auf und krame dann meine früheren Gedichte hervor. Ich weiß nicht, ich habe Vertrauen zu Ihnen. Übrigens, ich heiße Martha Fellinger. Also abgemacht, bis morgen.“
Ich sprach etwas verwirrt: „Ich freue mich, ich komme pünktlich. Mein Name ist Nachtweih.“
Frau Fellinger erhob sich von der Bank, nickte mir freundlich zu und entfernte sich in Richtung Schubertring. Leicht betreten sah ich vor mich hin. ‘In Zukunft muß ich die Menschen sachlicher, genauer und länger beobachten bevor ich mir meine Meinung bilde’, horchte ich in mich hinein.

Autor: Thilo Bachmann