Omas Weihnachten

Hannelore Halper

Sie blickt in den Spiegel. Ein blasses Gesicht, vom Leben gezeichnet, schaut ihr entgegen. Graue, etwas gelockte Haare umrahmen es. Ein wenig Lippenstift zur Feier des Tages sollte mehr Farbe in ihr Gesicht bringen. Für den Heiligen Abend hat sie ihr schönstes Kostüm angezogen. Ein braunes Kostüm. Gute Qualität aus besseren Tagen. Früher hat es hervorragend gepasst, aber sie hat abgenommen und jetzt hängt es etwas lose an ihrem Körper. Der Spitzenkragen ihrer Bluse ist die einzige Zier. Ihren Schmuck hat sie nach und nach den Kindern und Enkeln geschenkt.
Sie wartet. Wer wird sie im Seniorenheim besuchen kommen? Das Telefon läutet. Freudig hebt sie den Hörer ab. "Grüß dich, Mama!", fröhlich klingt die Stimme ihrer Tochter aus dem Gerät. "Du, ich wäre so gern noch auf einen Sprung vorbei gekommen, aber du weißt, ich bin im stress. Was ich noch alles zu tun habe! Bist mir eh nicht bös'?! Ich werde dich in den kommenden Tagen einmal besuchen. Frohe Weihnachten!" Die Tochter hat also keine Zeit. Langsam legt sie den Hörer auf die Gabel. Nur keine Traurigkeit aufkommen lassen.
Sie dreht sich um und ihr Blick fällt auf die Ansichtskarte aus Hawaii. Ihr Sohn hat sie geschickt: "Liebe Mama! Frohe Weihnachten aus der Ferne wünscht dir Robert und Familie".
Robert ist Direktor in einem großen Konzern und er braucht die Erholung und meint, diese am besten nur weit weg von zu Hause zu finden. Na ja, man muss sich eben auch damit abfinden.
Plötzlich klopft es an der Tür. Freudig erregt öffnet sie und erblickt ihren Enkelsohn. "Michael! Schön, dass du mich besuchen kommst!" ruft sie.
"Ja, Oma, aber ich gehe gleich. Du weißt doch, alle anderen warten auf mich. Ich möchte dir nur Frohe Weihnachten wünschen." Er drückt ihr einen Kuss auf die Wange und schon ist er wieder draußen.
Das war es also - Weihnachten bei Oma im Seniorenheim. Müden Schrittes verlässt sie ihr Zimmer und fährt mit dem Aufzug zum Festsaal.
Ein großer geschmückter Tannenbaum steht in der Ecke und ein paar alte Leutchen sitzen vor einem Glas Punsch. Schicksalsgenossen!