Leumond
Dezember 2007

Ein Weihnachtsengel


Hannelore Halper



Es war einmal ein kleines Mädchen. sie wohnte mit ihren Eltern und der kleinen Schwester in der Wohnung gleich nebenan.
Hannerl, das Töchterchen der Nachbarin, war im gleichen Alter wie sie. Die Mädchen verstanden sich gut und verbrachten jede freie Minute miteinander. Die Zeiten nach dem Krieg waren noch schlecht. Man hörte den Wind durch den Kamin heulen und es gab zu wenig Kohle zum Heizen. An den Außenwänden klapperten die Ziegel und manchmal klang es ganz Furcht erregend. An den Fensterscheiben bildete sich ein Meer von Eisblumen. Die Kinder bewunderten diese zarten Gebilde, die in allen Farben funkelten und vergaßen dabei die Kälte.
Manchmal hörte man durch die schlecht schließenden Fenster Gesang vom Hof herauf. Eine kräftige Stimme sang und zaghaft öffnete sich das eine oder andere Fenster und die Leute warfen kleine Münzen in den Hof. Der Sänger bückte sich darnach und bedankte sich mit Verbeugungen. Im Sommer konnte man den Hausfrauen beim Wäscheaufhängen zuschauen. Oft rief jemand zu den Mädchen hinauf und sie winkten fröhlich hinunter.
Einmal in der Woche kam der Mann mit den Eisblöcken und die Frauen trugen im Netz ein Stück davon nach Hause, um damit die leicht verderblichen Lebensmittel zu kühlen. Beim Zerteilen des Eisblocks fiel oft ein Splitter ab und Hannerl und Eva ergatterten ein Stück und lutschten vergnüglich daran.
Eva fragte eines Tages: "Sag' Hannerl, weißt du wie man eine Masche bindet?" Hannerl verneinte. Eva zeigte es ihr einige Male vor und dann wurde jede Schleife und jede Schnur zu einer Masche gebunden. Hannerl war stolz, dass sie sich ab jetzt selbst die Schuhbänder binden konnte.
Die Mädchen spielten "Schwarzer Peter", "Quartett" oder "Mühle" und im Park war das Spiel "Halli, Hallo" an der Reihe. Jede von ihnen hatte auch ein Diabolo. Sie warfen die Spulen in die Höhe und fingen sie wieder gekonnt auf und eine wollte die andere an Geschicklichkeit übertreffen.
Hannerl lebte mit ihrer Mutter allein. Der Vater war im Krieg gefallen. Oft war da Schmalhans Küchenmeister. Eva's Vater war Filialleiter eines Lebensmittelgeschäftes der Firma Dittrich. Für Hannerl war es jedes Mal ein Festtag, wenn sie bei den Nachbarn zum Essen eingeladen war. Da gab es sogar Kartoffelpüree und ein kleines Stück Wurst dazu. Aber ganz besonders freuten sich die Kinder, wenn der Vater Schokoladeherzen nach Hause brachte. Sie waren eine Köstlichkeit. Man ließ sie langsam im Mund zergehen und wenn die Schokolade ganz weich wurde, floss süße cremige Milch heraus und die schmeckte himmlisch.
Eines Tages, knapp vor Weihnachen, kamen aus der Nachbarwohnung keine Klopfzeichen, wie sonst, wenn sich die Mädchen sehen wollten. Hannerl wartete den ganzen Tag. Am Abend hörte sie Geräusche am Gang. Es waren einige Männer mit schweren Schritten. Einer davon sagte: "Aus dem Weg! Ansteckungsgefahr!" Sie konnte gerade noch erspähen, dass einer von ihnen ein Kind am Arm trug. Später erfuhr Hannerl, dass man Eva ins Spital gebracht hatte. Sie war an Diphtherie erkrankt.
Der Heilige Abend kam. Es klopfte an der Tür. Draußen stand die Nachbarin mit Tränen in den Augen und schluchzte: "Eva ist gestorben. Wir haben es soeben erfahren."
Hannerl weinte. Sie war sehr traurig und konnte lange Zeit nicht einschlafen. Nach langem Weinen fielen ihr dann doch die Augen zu. Sie träumte. Ein heller Strahl erleuchtete das Zimmer. Eva kam auf Flügeln geflogen und winkte ihr zu. "Frohe Weihnachten, Hannerl! Hier ist es so schön. Ich bin jetzt ein Englein. Du sollst nicht weinen. Es geht mir gut."
Als sie am Morgen erwachte, erzählte sie ihren Traum gleich der Mutter. Diese meinte:" Eva ist jetzt bestimmt im Himmel und schaut dir von oben zu."

Nach vielen Jahren denkt Hannerl noch oft an ihre liebe Gespielin von einst und jedes Jahr zu Weihnachten zündet sie für Eva eine Kerze an.

Hannelore Halper ist Kulturredakteurin der e-Zeitung "Die Virtuelle" und Werbemanagerin.
Im Bereich Literatur schätzt sie vor allem Klassiker und Werke der Romantik.