Leumond
September 2007

Wolfstod


Stefanie Kißling



Der Mond zieht inzwischen seine Bahnen durch dunkle Wolkenfetzen. Die Straßenbeleuchtungen klinkten sich bereits vor Stunden ein. Autos hupen. Hektisches Treiben auf den Straßen; die Leute, die jetzt noch etwas einkaufen gehen möchten, müssen sich beeilen. Jugendliche treffen sich per Handschlag in der Stadtmitte.
Lil ist auf dem Weg zur Arbeit. Sie parkt ihr Fahrrad vor der Arztpraxis. Schließt es ab. Sie betrachtet ihre Hände, als sie die Treppenstufen empor steigt. Sie zittern. Lil versucht zu lächeln, auch das Lächeln verschwindet hinter einem Zittern.
Sie schließt die Praxis auf. Das Licht brennt.

Du bist nicht pünktlich, sagt er. Es sieht so aus, als hätte er bereits auf sie gewartet. Er steht an der Rezeption, in voller Arztmontur.
Lil sagt nichts, zieht ihre Jacke aus und hängt sie an die Garderobe. Er beobachtet sie. Sie kann es spüren.
Warum bist du nicht pünktlich?
Sie beißt sich auf die Unterlippe. Er kommt auf sie zu. Jetzt kann sie ihn riechen. Lil sieht zu ihm empor.
Er dreht den Kopf seitlich, dann streicheln seine Hände plötzlich ihre Wangen. Sie bewegt sich nicht.
Dein Mann wieder? Das Kind? Etwas dieser Art?
Nein, sagt sie schließlich.
Was dann?
Der Taubenschlag.

Es kommt Lil so vor, als würde es draußen immer dunkler werden. Es ist die Zeit zwischen Abendprogramm und Nachtclubs. Die Zeit, in der ihr Mann normalerweise nach Hause kommt, es sich in seinem Sessel gemütlich macht und zischend die erste Dose Bier öffnet. Es ist die Zeit, in der ihre Tochter anfängt, sich für die Disco fertig zu machen. Und es ist die Zeit, in der man keine Fremden mehr anruft.
Die vielen Lichter der Stadt wirken beruhigend auf Lil. Sie stützt sich auf das Fensterbrett ab, während er seinen Gürtel öffnet und die Hose auf den Boden fallen lässt.

Wie viel, fragt er. Es klingt nicht wie eine Frage, eher wie etwas zwischen Feststellung und Gleichgültigkeit. Lil liegt neben ihm im Wartezimmer. Sie mustert einen Stuhl.
Hundert, sagt sie.
Kannst du mich nicht ansehen, wenn du mit mir redest? - Jetzt ist es eine Frage.
Sie sieht ihn an. Hundert, wiederholt sie.
Er steht auf, verlässt das Zimmer. Sie bleibt liegen. Starrt an die Decke. Von weit her bellt ein Hund. Sie lächelt.
Er kommt zurück, die Brieftasche in der Hand. Er zieht das Geld hervor, zählt die Hundert ab und lässt die Scheine auf den Boden regnen.
Er sagt: Nur, weil Weihnachten vor der Tür steht.
Natürlich, meint sie. Und weil der Taubenschlag umgebaut werden muss.
Er bleibt einen Moment am Türrahmen stehen. Dann dreht er sich um und geht.
Die Tür fällt ins Schloss. Still.

Als Lil wieder auf die Straße tritt, atmet sie die Nachtluft tief ein. Am Himmel kleben Sterne. Jugendliche ziehen in Scharen durch die Gassen. Sie schwingt sich auf ihr Fahrrad und fährt los. Bis nach Hause ist es nicht weit. Die Fahrtbrise kühlt ihre Wangen. Sie fühlt sich besser.

Zuhause angekommen, legt sie das Geld auf den Tisch neben einen Adventskranz. Ihr Mann schaut nicht auf. Sie beobachtet ihn eine Weile. Bleibt einfach so stehen. Sie sagt Hallo. Er antwortet ihr nicht. Die Bierdose in seiner Hand zittert.
Lil setzt sich neben ihn. Sie beugt sich vor und zündet eine Kerze des Adventskranzes an. Sie starren beide in die Flamme.

Ich liebe dich, sagt er. Lil lächelt. Lehnt den Kopf an seine Schulter.
Ich liebe dich wirklich, wiederholt er. Seine Unterlippe zittert, aber Lil kann sein Gesicht nicht sehen.
Gehen wir an den See? fragt sie.
Er streicht ihr das Haar aus der Stirn, den Blick immer noch auf die Flamme gerichtet.
Vielleicht sehen wir ein paar Tauben, sagt sie.
Die Tauben wurden von Wölfen getötet, sagt er.
Lil schweigt. Dann meint sie: Wir kaufen sie uns zurück.
Er lächelt leicht, drückt sie an sich, vergräbt ihr Gesicht in seiner Brust und sagt beruhigend: Das geht nicht, Schatz. Du weißt, dass das nicht geht. Sie sind tot. Und für einen neuen richtig guten Taubenschlag fehlt uns das Geld. Dein Vater wäre uns sicher nicht böse, wenn wir das mit der Züchtung sein lassen würden. Seine Tauben sind tot, genau wie er. Uns fehlt nicht nur das Geld, sondern auch die Zeit, das weißt du doch, Schatz, oder? Er streift mit seinem Blick kurz die Hundert, die neben dem Adventskranz liegen.
Vor allem die Zeit, fügt er hinzu, die Augen erneut auf die Flamme gerichtet.
Lil schweigt.

Am Morgengrauen öffnet sich die Haustür. Jenny kommt herein. Sie bemüht sich, leise zu sein. Sie wundert sich, dass im Wohnzimmer das Licht noch brennt. Sie betritt es. Muss lächeln. Ihre Eltern sind auf der Couch eingeschlafen. Papa hat Mama umarmt, ihren Kopf an seine Brust gedrückt. Mamas Augenlider flackern. Sie träumt unruhig. Aschereste kleben an der Kerze und sprenkeln den Adventskranz. Neben dem Kranz liegt ein Foto von Großvater. Jenny nimmt es in die Hand und lächelt. Mama sieht ihm ähnlich, denkt sie. Sie legt das Bild zurück an seinen Platz und löscht das Licht.